Arm und Reich
Europäern, woraus die Populationen hervorgingen, die in Südafrika als »Coloreds« oder »Basters« bekannt sind. Die San wurden ähnlich stark dezimiert, doch wenigstens eine kleine Zahl von ihnen konnte ihre Eigenständigkeit in namibischen Wüstengebieten, die für Landwirtschaft nicht taugen, bewahren. Ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit drangen sie vor einigen Jahren durch den Kinofilm Die Götter müssen verrückt sein . Die weiße Population im Norden des Kontinents birgt keine großen Überraschungen, da Völker von ähnlichem Aussehen in benachbarten Regionen des Nahen Ostens und Europas beheimatet sind. Während der gesamten überlieferten Geschichte haben zwischen Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika Völkerwanderungen in alle Richtungen stattgefunden. Ich werde deshalb in diesem Kapitel nicht ausführlich auf die weißen Afrikaner eingehen, da ihre Herkunft kein Geheimnis darstellt. Rätsel geben uns indessen Schwarze, Pygmäen und Khoisan auf, deren heutige Verbreitungsgebiete auf umfassende Wanderungen in der Vergangenheit schließen lassen. So deutet beispielsweise das fragmentierte Verbreitungsgebiet der 200 000 Pygmäen, die verstreut unter 120 Millionen Schwarzen leben, darauf hin, daß dieses Jägervolk einst in den Regenwäldern am Äquator weit verbreitet war, bis schwarze bäuerliche Völker einwanderten und die Pygmäen in isolierte Rückzugsgebiete vertrieben. Das Gebiet der Khoisan im südlichen Afrika ist überraschend klein für ein Volk mit so ausgeprägter Anatomie und Sprache. Hatten möglicherweise auch die Khoisan einst ein viel größeres Verbreitungsgebiet, bis ihre nördlicheren Populationen auf irgendeine Weise eliminiert wurden?
Die größte Anomalie habe ich bis zum Schluß aufgehoben. Sie betrifft Madagaskar, jene große Insel, die nur 400 Kilometer vor der afrikanischen Ostküste und damit sehr viel näher an Afrika als an irgendeinem anderen Kontinent liegt (zwischen Madagaskar und Asien beziehungsweise Australien erstreckt sich der Indische Ozean in seiner vollen Breite). Die Bevölkerung Madagaskars setzt sich aus zwei Elementen zusammen. Zum einen aus afrikanischen Schwarzen, was nicht weiter überrascht, zum anderen jedoch aus Menschen, die aufgrund ihres Aussehens sofort als Südostasiaten erkennbar sind. Die von allen Bewohnern Madagaskars – Asiaten, Schwarzen und Mischlingen – gesprochene Sprache gehört zur austronesischen Sprachfamilie und weist starke Ähnlichkeit mit der Maanyan-Sprache Borneos auf, einer Insel, die rund 6500 Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Ozeans liegt. Kein anderes Volk, das den Maanyan oder anderen Bewohnern Borneos auch nur entfernt ähnelt, lebt im Umkreis von Tausenden von Kilometern um Madagaskar.
Diese madagassischen Austronesier mit ihrer austronesischen Sprache und abgewandelten austronesischen Kultur lebten bereits auf Madagaskar, als die ersten Europäer im Jahr 1500 die Insel betraten. Für mich gibt es in der gesamten menschlichen Siedlungsgeographie nichts Verblüffenderes. Man stelle sich vor, Kolumbus hätte bei seiner Ankunft in Kuba blonde, blauäugige Skandinavier mit einer dem Schwedischen ähnlichen Sprache vorgefunden, während das nordamerikanische Festland von indianischen Sprechern amerindischer Sprachen bewohnt war. Wie um alles in der Welt konnten prähistorische Bewohner Borneos, die vermutlich in Booten ohne Karten oder Kompaß reisten, bis nach Madagaskar gelangen?
Das Beispiel Madagaskars zeigt, daß Sprachen ebenso wie die physische Erscheinung von Völkern wertvolle Hinweise auf ihre Herkunft geben können. Ein bloßer Blick auf die Bewohner Madagaskars genügt, um zu wissen, daß ein Teil von ihnen aus Südostasien stammt. Woher genau, das könnten wir allerdings nicht sagen, und auf Borneo wären wir sicher nicht gekommen. Was können wir aber noch aus afrikanischen Sprachen lernen, das uns nicht schon afrikanische Gesichter verraten?
Klarheit in die schwindelerregende Komplexität der 1500 Sprachen Afrikas brachte der berühmte Linguist Joseph Greenberg von der Stanford University, der erkannte, daß sämtliche dieser Sprachen insgesamt nur fünf Sprachfamilien zuzuordnen sind (Verbreitungsgebiete siehe Abbildung 18.2). Wer von Ihnen geglaubt hat, die Linguistik sei eine besonders langweilige, trockene Disziplin, wird sicher erstaunt sein zu erfahren, in welch faszinierender Weise Abbildung 18.2 zu unserem
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