Arm und Reich
fragt: Soll ich heute den ganzen Tag in meinem Garten arbeiten (was mir mit ziemlicher Sicherheit in einigen Monaten einen ordentlichen Gemüseertrag einbringen würde), Schalentiere sammeln (so daß ich heute bestimmt etwas Fleisch essen könnte) oder auf die Jagd nach Wild gehen (dann hätte ich heute vielleicht eine Menge Fleisch, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit einen leeren Magen)? Menschen und Tiere setzen bei der Nahrungssuche ständig Prioritäten und treffen, wenn auch vielleicht unbewußt, Entscheidungen darüber, wie sie ihre Energie aufteilen wollen. Zuerst konzentrieren sie sich auf das, was sie am liebsten essen oder was den höchsten Nährwert hat. Sind solche bevorzugten Nahrungsmittel nicht zu haben, wird auf weniger beliebte ausgewichen.
Viele Überlegungen fließen in solche Entscheidungen ein. Menschen suchen Nahrung, um ihren Hunger zu stillen und sich den Magen zu füllen. Sie haben ein Verlangen nach bestimmten Speisen wie eiweißreicher Kost, Fett, Salz, süßem Obst oder einfach nach dem, was gut schmeckt. Unter sonst gleichen Rahmenbedingungen streben die Menschen nach einer Maximierung ihres Ertrags an Kalorien, Eiweiß oder sonstigen Nahrungsbestandteilen mit Hilfe einer Strategie, die ihnen die größte Menge mit der höchsten Sicherheit in der kürzesten Zeit und mit der geringsten Mühe einbringt. Parallel dazu sind sie bestrebt, das Risiko des Verhungerns zu minimieren: Bescheidene, aber verläßliche Erträge sind einer unsteten Lebensweise vorzuziehen, bei der im Durchschnitt hohe Erträge anfallen, die aber das schwerwiegende Risiko birgt, aus Nahrungsmangel zu verhungern. Die ersten Pflanzungen, die vor fast 11000 Jahren angelegt wurden, dienten denn auch womöglich als eine Art zuverlässige Reserve beziehungsweise Versicherungspolice für den Fall, daß der Nachschub an wilder Nahrung ausblieb.
Im Gegensatz dazu stellen Jäger oft Prestigegedanken in den Vordergrund – etwa indem sie lieber jeden Tag auf Giraffenjagd gehen, um vielleicht einmal im Monat ein Tier zu erlegen und dann als große Jäger dazustehen, als jeden Monat die doppelte Nahrungsmenge heimzutragen, indem sie ihre Tage mit dem Sammeln von Nüssen verbringen. Scheinbar willkürliche kulturelle Präferenzen spielen ebenfalls eine Rolle. So gilt Fisch in manchen Gesellschaften als Delikatesse, in anderen als Tabu. Und schließlich werden die Prioritäten der Menschen stark davon beeinflußt, welchen relativen Wert sie unterschiedlichen Lebensweisen beimessen – was sich ja auch heute gut beobachten läßt. So hegten im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts Rinderzüchter, Schafzüchter und Farmer gegenseitige Verachtung füreinander. In ähnlicher Weise haben Bauern in der Geschichte der Menschheit auf Jäger und Sammler herabgeblickt, die ihnen als primitiv erschienen, während diese ihrerseits Bauern als unwissend betrachteten. Und alle beide wurden von Viehzüchtern verachtet. All diese Überlegungen spielen in Entscheidungen über das Wie der Nahrungsbeschaffung mit hinein.
Wie gesagt, konnten die jeweils ersten Bauern auf den verschiedenen Kontinenten keine bewußte Entscheidung für die Landwirtschaft fällen, da es in ihrer Umgebung keine Vorbilder gab, an denen sie sich orientieren konnten.
Hatte sich die Landwirtschaft jedoch in einem Teil eines Kontinents erst entwickelt, konnten Jäger und Sammler in benachbarten Gebieten das Ergebnis in Augenschein nehmen und bewußt eigene Entscheidungen treffen. In einigen Fällen übernahmen sie die neue Wirtschaftsweise mit allem Drum und Dran, in anderen wählten sie nur bestimmte Elemente aus, und in wieder anderen lehnten sie die Einführung gänzlich ab und blieben ihrer bisherigen Lebensweise treu.
In manchen Gebieten Südosteuropas beispielsweise übernahmen Jäger und Sammler um 6000 v. Chr. binnen kurzer Zeit Getreide, Hülsenfrüchte und Vieh aus dem Nahen Osten als komplettes Bündel. Alle drei dieser Elemente breiteten sich in den Jahrhunderten vor 5000 v. Chr. rasch und simultan auch in Mitteleuropa aus. Der Grund für den schnellen Übergang zur Landwirtschaft in Südost- und Mitteleuropa könnte darin bestanden haben, daß diese Regionen für Jäger und Sammler nicht besonders ergiebig waren. Im Gegensatz dazu erfolgte die Einführung der Landwirtschaft in Südwesteuropa (Südfrankreich, Spanien und Italien) nur schrittweise – erst kam das Schaf, viel später das Getreide. Auch in
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