Auf den ersten Blick
gäbe?
Am nächsten Morgen versuchte ich, mir einzureden, dass es – hey – vielleicht ungewöhnlich sein mag, aber durchaus vorkommt. Was war schon dabei? Sie hatte ihren Film vollgeknipst, bevor sie ihn zum Entwickeln brachte, und ich war eben zufällig da gewesen. Schließlich hatte ich sie an dem Abend nur getroffen, weil ich in der Nähe war. Was wie ein Zufall aussah, war, nun … nur noch eine hübsche Anekdote. Bestenfalls ein Eisbrecher. Ein Hey-hier-kommt-was-Lustiges .
Doch Dev konnte man nichts vormachen. Er war noch immer schwer beeindruckt von dem, was er für schwindelerregende, globale Auswirkungen hielt.
»Alter, manche Leute setzen aus geringeren Gründen Kinder in die Welt!«
»Seit wann nennst du mich ›Alter‹? Und willst du mir jetzt weismachen, das soll ich zu ihr sagen, falls wir uns wiedersehen? ›Hi, du kennst mich nicht, aber ich sitze im Hintergrund auf einem deiner Fotos. Lass uns doch ein Kind in die Welt setzen!‹«
»Jase, du vergisst etwas ganz Entscheidendes: Du hattest am Ende ihre Kamera in der Hand.«
»Das lag an meiner Ungeschicklichkeit«, warf ich ein.
»Du hast sie am selben Ort wiedergesehen!«
»Wahrscheinlich suchte sie ihre Kamera.«
»Junge! Komm schon! Das ist ein Moment! Oder nicht? Nutze ihn!«
In Wahrheit wollte ich ja. Gestern Abend war ich lange wach geblieben, hatte die Fotos durchgesehen, auf der Suche nach … wonach? Sie und ich wissen, dass ich über dieses Mädchen nichts wusste, und doch kam es mir zunehmend so vor, als wüsste ich etwas.
Folgendes glaubte ich zu wissen:
Ihre liebste Jahreszeit war der Frühling, denn Gelb war ihre Lieblingsfarbe, und Narzissen sind gelb. Sie mochte Narzissen, weil sie vielleicht irgendwo auf einem Bauernhof aufgewachsen war, und wenn ich auch kaum etwas von Bauernhöfen verstehe, stelle ich mir doch manchmal vor, dass es da irgendwo in der Nähe Narzissen gibt. Natürlich mochte sie Tiere, wegen der ganzen Sache mit dem Bauernhof, und außerdem fällt es schwer, ein Mädchen zu mögen, das keine Tiere mag. Es bringt alles durcheinander. In ihrer kleinen Londoner Wohnung mit den schäbig-schicken Möbeln, die sie auf einem Wochenend-Flohmarkt gekauft und in mühsamer Kleinarbeit selbst angemalt und restauriert hatte, als sie nach London gezogen war aus – woher? Wales vielleicht, wo sie auch ihre Jugendliebe zurücklassen musste, den einzigen Jungen, den sie je geküsst hatte? – nun, die Wohnung war einfach zu klein für einen Hund oder eine Katze, also streichelte sie sie nur, wenn ihr auf der Straße welche begegneten, und verstrickte die Besitzer in lange, freundliche Gespräche. Katzen! Katzen mochte sie am liebsten! Und bestimmt fuhr sie Fahrrad, obwohl sie beide Male, als ich sie gesehen hatte, ein Taxi nahm, und der blaue Mantel, den sie trug, war ihr liebster, und sie trug ihn immer und überall, bei jedem Wetter.
Ich wusste, dass ich dumm war. Ich wusste, dass ich nur ein Bild von einem Mädchen malte, das ich gern kennen würde, so klischiert die Tierliebe, das ramponierte Fahrrad, der blaue Mantel und die frischen Narzissen des Blumenhändlers auch sein mochten, den sie täglich auf ihrem Weg zur Arbeit grüßte.
Und dann war da noch ihre Arbeit. Was machte sie? Wiederum übertraf meine Fantasie vermutlich die Wirklichkeit. In meiner Vorstellung arbeitete sie vielleicht bei einem Buchverlag an stillen, aber bedeutsamen Texten und sorgte dafür, dass Professoren ihr Sandwich bekamen, bevor die Dame vom New Scientist auftauchte oder der Typ vom World Service hereinschaute, um ein Interview auf einem uralten, zerkratzten Marantz-Tonband aufzunehmen. Oder vielleicht war sie Kunststudentin, ein Freigeist, der Purzelbäume schlug, mit Zehennägeln in allen Farben des Regenbogens und einem Kaninchen namens Renoir.
Oder Französin. Ich hätte ehrlich nichts dagegen, wenn sie einfach nur Französin wäre.
In Wahrheit arbeitete sie vermutlich im Verkauf. Für eine Fensterfirma, die in den späten Neunzig ern gegen diverse EU -Umweltschutzrichtlinien verstoßen hatte und im Fern sehen angeprangert wurde. Sie hatte an diesem Tag nichts anderes als diese blaue Jacke gefunden. Tiere waren ihr egal. »Narzisse« konnte sie nicht mal buchstabieren. Sie rauchte rote Marlboros, konnte Kinder nicht leiden und war noch nie in einer vernünftigen Buchhandlung gewesen. Und falls sie ein Fahrrad hatte, wäre es nicht alt und ramponiert, mit einem Korb am Lenker und Plastikblu men an den Schutzblechen, sondern
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