Auf der Flucht
»Fledermaus«: »Glücklich ist / wer vergisst / Was doch nicht zu ändern ist.«
Vergessen. Verdrängen. Beiseite schieben. Ich weiß mit meinen Zeitgenossen, dass der weggeschobene Schmerz zu Verpanzerungen führt. Eines der Märchen der Brüder Grimm, nämlich das vom »Froschkönig oder der eiserne Heinrich« hat das herrliche Aufsprengen und Aufspringen dieser Verpanzerung festgehalten – im Bild vom treuen Diener Heinrich, der, als sein Herr zum Forsch geworden, eiserne Bänder um sein Herz geschmiedet hat, auf dass es nicht breche. Nun, da der Frosch wieder Prinz geworden und sein treuer Heinrich ihn wieder in sein Königreich fährt, hört er dreimal etwas krachen, so als wäre etwas durchbrochen.
»Heinrich, der Wagen bricht!« –
»Nein, Herr, der Wagen nicht,
es ist ein Band von meinem Herzen,
das da lag in großen Schmerzen,
als ihr in dem Br u nnen saßt,
als ihr eine Fretsche (Frosch) was't.«
Und wenn ich es recht bedenke, war, vom Tod und von den bleibenden körperlichen Verletzungen, Verwundungen abge sehen – die Straßen waren viele Jahre voll von Kriegsversehrten, Kriegskrüppeln, lauter lebende Mahnmale, lauter Antikriegsdemonstranten –, vieles nicht so endgültig, wie es uns im ersten schrecklichen Moment vorkam. Auch das Endgültige der Trennung wurde dann doch nicht so endgültig, denn schon ein Jahr später starb Stalin, für kurze Zeit schwankte und verweichlichte die vorübergehend verun sicherte DDR-Diktatur und so kam es, dass ich schon zwei Jahre später mit meinem ebenfalls in Tübingen studie renden Freund Oswald (wir stehen bis heute in lockerem Kontakt und teilen seit unserer gemeinsamen Flucht die meisten Ansichten und Einsichten) zu einem Klassen treffen nach Bernburg fuhr, um dort natürlich auch meine Eltern zu sehen. Doch trotz des »Bandes von meinem Herzen« hatte ich wenig Zeit für sie, aber viel für meine Schulfreunde.
In Erinnerung geblieben ist mir hauptsächlich, dass ich ein Versäumnis nachholte: Ich schlief mit meiner ehemaligen Russischlehrerin, sicher auch, weil ihr Favorit während der Schulzeit, der in der Klasse unmittelbar vor mir sitzende Karlheinz, sich nicht getraut hatte, auch in die DDR zurückzufahren.
Vor allem aber erinnere ich mich an unsere Bahnfahrt nach Bernburg. In Köthen mussten wir zum letzten Mal umsteigen. Das war damals (und ist heute noch) ein Bahnhof am Ende der Welt, von dem eine Nebenstrecke nach Bernburg führt – alles dort erinnert an eine verlassene Bahnstation in einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts. Oswald und ich sitzen also in einem Abteil und warten auf die Abfahrt des Zuges. Auf den beiden Fensterplätzen sitzt eine Mutter und ihr gegenüber ihr vielleicht vierjähriger Sohn. Ich biete ihm aus meinem »Vivil«-Spender ein winziges Pfefferminz-Brikett an (das inzwischen längst das runde diskusförmige »Dr. Hillers«-Pfefferminz auf den zweiten Platz der Gunst verwiesen hatte), das Kind greift freudig danach, schiebt das Mini-Ding in den Mund und fängt auf einmal wie am Spieß an zu schreien, spuckt das für ihn unerwartet scharfe Bonbon aus und die Mutter blickt mich an, als ob ich ihr Kind habe vergiften wollen. Oswald zerrt mich in den Gang hinaus und macht mir die heftigsten Vorwürfe. Wir sind dann trotzdem weder verhaftet noch gar nach Bautzen oder Sibirien verbracht worden, aber seit der Zeit habe ich bei Besuchen »in der Zone« nie mehr mit meinen westlichen Konsumgütern angegeben.
Ich bin danach aber auch nur noch selten in die DDR gefahren. Während meiner zweiundzwanzig Jahre beim »Spiegel« ging es nicht, weil »Spiegel«-Redakteuren lange Zeit die Einreise in die DDR verboten war – umso stürmi scher waren die »Feste«, mit denen später die Wieder eröff nungen des Ostberliner Büros mit fraternisierenden Besäuf nissen gefeiert wurden. Diese jahrelangen Einreiseverbote für »Spiegel«-Redakteure resultierten aus Artikeln über die DDR. Im ersten hatte der »Spiegel« gemeldet, was Chruschtschows Schwiegersohn Alexej Adschubej bei einem Tauwetterbesuch in Bonn nach regem Wodka-Genuss ausgeplaudert hatte, dass nämlich Walter Ulbricht an Kehlkopfkrebs erkrankt sei. Der zweite Artikel war ein Bericht über Zwangsadoptionen in der DDR.
Im Frühling nach dem Mauerbau, also Anfang März 1962, ich war Chefdramaturg an den Württembergischen Staatstheatern, folgte ich aber einer Einladung der Ostberliner Theaterzeitschrift »Theater der Zeit« (dem DDR-Pendant zu »Theater
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