Ausgeflittert (Gesamtausgabe)
»Ich bin über fünfzig Jahre älter und verstehe es auch nicht.« Ich zünde mir eine neue Zigarette an und setze mich dicht neben ihn.
»Ich fühle deinen Schmerz«, sage ich und lege meinen Arm auf seine Schultern.
»Glaub es oder glaub es nicht. Ich habe genau die gleichen Empfindungen verspürt, als Tobi so lange weg war. Das Gefühl, nicht atmen zu können. Der Schmerz in der Brust, der dich fast zerreißt.« Mike sieht mich verwundert an. Ich scheine die erste Person an diesem Tag zu sein, die so offen mit ihm spricht. Es waren viele Trauergäste da. Aber alle waren stumm.
»Rede mit mir. Ich höre dir zu. Du bist nicht allein. Wann immer du mich brauchst, bin ich für dich da.
»Um diese Zeit haben Kathie und ich immer einen Strandspaziergang gemacht. Bewegung sollte gut fürs Baby sein. Mit Mitte Vierzig war es doch ein Risiko, das erste Mal schwanger zu werden. Aber sie wollte es doch auch!«
»Und wie sie es wollte! Was gibt es Schöneres, als seinem Liebsten ein eigenes Kind zu schenken? Wenn du magst, gehen wir beide an den Strand und du erzählst mir weiter.« Ich stehe auf und hake mich bei ihm ein. Langsam spazieren wir in Richtung Meer. Ich will wissen, wie er Kathie kennengelernt hat. Mike erzählt ohne Unterbrechung. Wir hocken länger als zwei Stunden im Sand bis er bemerkt, dass ich friere und ich mir ständig die nackten Arme reibe.
»Ich danke dir. Du bist eine geduldige Zuhörerin. Es hat richtig gut getan, mit dir zu sprechen.« Ich nehme ihn noch einmal fest in den Arm.
»Das machen wir morgen wieder. Dann ziehe ich mir aber eine Jacke über.«
Jenny ist mit den Vorbereitungen für das große BBQ beschäftigt und findet in mir eine tüchtige Helferin. Im Minutentakt trudeln Kinder, Enkel, Freunde und Nachbarn ein. Die Männer versammeln sich mit einer Flasche Bier um den großen Grill und die Frauen trinken gekühlten Chardonnay aus Kalifornien. Phillip hat Mike zwar eingeladen, aber er wusste, dass er nicht kommen wird. Ich bitte Jennies Tochter, eine Weile auf Clara aufzupassen und stelle eine Portion mit Leckereien zusammen. Mit dem Teller und einer Flasche Wein gehe ich zu ihm hinüber. Er öffnet erst, nachdem ich dreimal forsch klingel. Mike sitzt im abgedunkelten Wohnzimmer und hört leise Musik. Vor ihm auf dem Tisch stehen mehrere, geleerte Whiskeyflaschen.
»Hast du Gläser in der Küche?« Ich gebe ihm die Flasche Wein und bitte ihn, sie zu öffnen. Aus dem Schrank nehme ich zwei Glasbecher und eine Gabel und gehe zurück in seine Dunkelkammer. Mit einer Handbewegung schiebe ich die leeren Flaschen zur Seite und proste ihm leise zu.
»Probier mal, den Salat habe ich gemacht.« Mike lehnt ab. Er will nichts essen. Er will leiden. Warum sonst hat er sich für diese melancholische Musik entschieden.
»Du sollst nur probieren«, sage ich mit einem Lächeln und schiebe ihm eine gefüllte Gabel in den Mund.
»Gestern habe ich in deinem ersten Buch gelesen. Es hat mir sehr gefallen. Jenny sagt, dass alle deine Geschichten autobiographisch sind. Hast du auch über Kathie geschrieben?« Er hat über seine große Liebe geschrieben. Es war das letzte Buch, das veröffentlicht wurde. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
»Hast du vielleicht eine deutsche Ausgabe für mich?» Mike geht in sein Arbeitszimmer und bringt mir die gewünschte Version. Er lobt meine guten Fremdsprachkenntnisse und kann nicht verstehen, warum ich mit der Original Ausgabe Probleme habe. Geschickt verwickle ich ihn in ein Gespräch und füttere ihn immer wieder, bis er alles aufgegessen hat.
»Gehen wir heute Abend wieder zusammen zum Strand? Ich würde dich gern abholen, wenn Clara eingeschlafen ist.« Mike stimmt zu.
»Du hast eine ganz besondere Art. Wer kann dir überhaupt etwas abschlagen?«
»Die Wenigsten!«
Als ich zur Feier zurück komme, hat Tobias bereits zwei Mal angerufen. Wie schade, denke ich, denn ich erreiche ihn jetzt nicht mehr. Bis auf Jennies Tochter sind bereits alle Gäste gegangen. Ich will das familiäre Gespräch zwischen Mutter und Kind nicht stören. Sie sehen sich schließlich nur während der Winterzeit. Während Clara bunte Bilder für die Gastgeber malt, lese ich in der deutschen Ausgabe von Mikes letzten Bestseller. Immer wieder huscht mir ein Lächeln über das Gesicht. Mike beschreibt in den ersten Kapiteln seine innere Zerrissenheit. Wie er zwischen einer treuen und langjährigen
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