Ausgesetzt
der Mann.
»Genau«, erwiderte Walker. Er marschierte wieder los und drehte sich nicht um. Das war auch nicht nötig, denn er wusste auch so, dass der Mann dastand und ihm nachsah.
Auf der Ostseite der Landspitze stieg das Gelände langsam an und wurde plötzlich sehr steil. Walker vergaß den Mann und verfiel in Trab. Er verließ die Felsbank und lief auf dem Kiesstrand weiter, der sich bald zu einer schmalen Sandbahn verengte. Er sah eine Klippe. Und Kiefern, die sich gegen den Himmel abzeichneten. Er passierte zwei kleine Häuser, aber keines sah dem auf dem Foto im entferntesten ähnlich.
Weit draußen auf dem Wasser saß eine Frau auf einem Stuhl, einem Gartenstuhl aus Aluminium, dessen Beine auf der spiegelglatten Oberfläche des Sees zu treiben schienen. Ihr Gesicht war der Sonne zugewandt, die dicht über dem Wasser hing und ihre Strahlen auf die Sitzende abschoß. Die Frau trug einen geblümten Bademantel, ihre Augen waren mit einer Sonnenbrille geschützt, ihr graues Haar quoll unter einem Tuch hervor, das sie wie einen Turban um den Kopf gewickelt hatte.
Er stand am Ufer und betrachtete sie einen Augenblick.
Ein Ungetüm von einem Haus, A-förmig mit riesigen Glasfenstern, stand auf einer Kuppe neben der Sandklippe. Wasser klatschte gegen den Fuß der Klippe. Es gab keinen Strand davor. Manches sah richtig aus, manches falsch. Vielleicht gibt es weiter vorn noch mehr Klippen, dachte Walker. Vielleicht ist das einfach nur die falsche.
Er müsste in den See hinauswaten, um sich die Dinge aus der Perspektive des Fotos anzusehen.
Wieder sah er zu der Frau hin. Sie trieb noch immer da – zehn, zwölf Meter vom Ufer entfernt.
Walker zog seine Stiefel aus und watete hinaus. Er ging nicht direkt auf die Frau zu, weil er sie nicht erschrecken wollte, sondern erst einmal geradeaus, links von ihr, in etwa fünf Metern Entfernung. Als er mit ihr auf gleicher Höhe war, stand er oberschenkeltief im Wasser, schaute gedankenverloren auf den See hinaus und drehte sich eine Zigarette.
Er räusperte sich. Nichts. Er zündete ein Streichholz und damit seine Zigarette an. Nichts.
»Ich glaube, heute wird’s wieder ganz schön heiß«, sagte er laut und versuchte dabei, so harmlos wie möglich auszusehen.
Die Frau zuckte ein wenig zusammen und wandte sich zu ihm. Er lächelte sie an. »Morgen.«
Ihre Augen konnte er hinter der dunklen Brille nicht erkennen. Ihr Gesicht war gebräunt, ihre Haut sah dünn und faltig aus.
»Guten Morgen«, sagte sie mit heller, klarer Stimme.
»Toller Trick, das mit dem schwebenden Stuhl«, sagte er. »Wie machen Sie das?«
Die Frau sah ihn einen Augenblick an. Dann sagte sie: »Das kann jeder. Kommen Sie doch rüber.«
Walker watete hinüber, und als er sie fast erreicht hatte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas, das sich wie eine glitschige Steinmauer anfühlte. Seine Füße fanden Halt, und er stieg auf die flache Oberseite eines riesigen Felsbrockens, der etwa fünf Zentimeter unter der Wasseroberfläche lag.
»Gar nicht so toll der Trick, was?«, sagte die Frau. »Auf der anderen Seite kommt man leichter hoch. Ich komme jeden Morgen her, wenn der See ruhig und die Luft klar ist. Das ist mein Felsen.«
Walker nickte. »Ein herrlicher Platz.«
»So will ich sterben. Hier im Sitzen.«
Er sah auf sie hinunter.
»Jetzt noch nicht, mein Lieber. Zu wem gehören Sie denn?«
»Zu niemand«, erwiderte er. Niemand, dachte er. Er hatte sich aber bereits eine Geschichte zurechtgelegt.
»Ich bin hier gerade vorbeigefahren und habe den Wegweiser nach Mary’s Point gesehen. Meine Mutter hat hier oft ihre Großmutter besucht. Sie hat mir immer wieder davon erzählt. Da dachte ich, ich schau mal vorbei, ob ich das Haus ihrer Großmutter finde. Nur um zu sagen, ich hab’s gesehen, Sie wissen schon.«
»Haben Sie’s gefunden?«
»Bis jetzt noch nicht. Ich weiß, wie’s aussieht. Ich habe Fotos gesehen. Vielleicht bin ich nicht weit genug gegangen?«
»Hmm.« Sie betrachtete ihn eine Weile. »Wie hieß sie denn? Die Großmutter Ihrer Mutter?«
Walker hatte sich auch schon einen Namen ausgedacht. »Davidson.«
»Davidson«, wiederholte die alte Frau. »Wann war Ihre Mutter das letzte Mal hier?«
»Ach«, sagte Walker, »vielleicht so 1964.«
»Also dann sind Sie falsch hier. Hier hat es nie Davidsons gegeben. Ich komme hier mit meiner Familie her, seit ich geboren wurde, und das war schon eine Weile vor 1964, wie Sie sich denken können. Ich kenne alle, und alle kennen mich,
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt