Ausradiert: Thriller (German Edition)
den übrigen immer mindestens zwei Monate gelegen hatten.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass auch er sich in einer Art Todestrakt befand. Gerald Reasoner mochte ihn sogar überleben. Ein grauenhafter, bitterer Gedanke. Er stellte sich vor, wie Reasoner die Neuigkeit in seiner Zelle hörte, und dessen verstecktes schmieriges Grinsen. Ein Ende wie dieses war inakzeptabel. Ich brauche ein Ziel, hatte er Dr. Tully gesagt. Hier war eins: Gerald Reasoner zu überleben.
Nick war nicht hungrig, zwang sich aber, einen halben Joghurt und eine Banane zu essen. Er musste diesen Gewichtsverlust aufhalten, wieder zu Kräften kommen. Nick kaute langsam die Banane, sein gesamtes Verdauungssystem war widerstrebend, selbst seine Kiefermuskeln waren schwach. Geruch und Geschmack der Banane waren merkwürdig kräftig. Eine Bananenerinnerung nahm in seinem Verstand beinah Gestalt an. Nick saß reglos am Tisch und wartete, aber sie kam nicht. Er konnte sich erinnern, sich eine geistige Notiz wegen etwas gemacht zu haben. Aber er wusste nicht worüber. Eine Welle der Frustration schlug über ihm zusammen. Nick hämmerte auf den Tisch, so fest er konnte, kippte dabei den Joghurt auf den Boden. Ein oder zwei Momente vergingen, ehe er begriff, dass er die rechte Hand zum Hämmern benutzt hatte. Jetzt lag sie reglos in seinem Schoß. Er hob sie, half mit der linken ein wenig nach, ballte eine Faust, versuchte es wieder. Das folgende Geschehen konnte man zwar nicht direkt als Hämmern bezeichnen, aber es war mehr als das Herabfallen eines toten Gewichts.
Nick ging zum Gefrierschrank. Wer immer ihn gefüllt hatte, hatte auch an Ben und Jerrys Schokoladenkaramelleis gedacht. Nick aß niemals Eis. Nun würgte er den halben Becher hinunter und nahm den Rest mit ins Schlafzimmer.
Er griff nach dem Footballfoto: Desert HS Eastern Regional Champions. Highschool-Jungs – ein schwarzweißer Schnappschuss, der sich im Lauf der Zeit sepiabraun verfärbt hatte – saßen in drei Reihen hintereinander, gekleidet in ihre Mannschaftstrikots, aber ohne Helme. Über ihren Köpfen, ein oder zwei Zoll unterhalb des Rahmens, sah man einen Vogel im Flug. Nick musterte die Gesichter der Jungen, heute alte Männer oder tot, und den Vogel, dessen Schwanzfedern gen Himmel wiesen. Er entschied, dass es ein großartiges Foto war, ein Kunstwerk, dessen Aussage, die flüchtige Jugend, von dem Vogel getragen wurde, eine Aussage, die mit dem zunehmenden Verblassen des Bildes immer nachdrücklicher wurde. Nick konnte sich nicht an den Kauf erinnern, verstand aber, was ihn angesprochen hatte. Die Namen der Spieler am unteren Rand interessierten ihn nicht.
Nick saß am Tisch und starrte auf eine Liste.
1. Aufhören, abzunehmen.
2. Wieder zu Kräften kommen.
Essen würde nicht ausreichen. Wieder zu Kräften kommen hieß trainieren. Schwimmen klang richtig. Nick wohnte drei Blocks vom Strand entfernt. Er zog eine Badehose, T-Shirt und Sandalen an, griff nach dem Stock. Plan: zum Strand gehen, fünfzig Meter parallel zum Ufer schwimmen – pro Tag etwa fünfundzwanzig Meter mehr –, nach Hause gehen, essen. Ein guter Plan. Aber jetzt kurz ausruhen. Nick legte sich aufs Bett, ein wenig erschöpft vom Öffnen und Schließen der Schrankfächer, vom Anziehen. Der Volleyball rollte herunter und prallte auf den Boden.
Nick schwamm meilenweit, seine Züge waren kraftvoll und mühelos, das Wasser um ihn herum schäumte, Tang trieb gegen seine Brust. Er hatte das Schwimmen immer geliebt. Erst das Klingeln des Telefons stoppte ihn.
Er tauchte aus dem Schlaf auf, benommen und verwirrt. »Hallo?«
»Dad? Habe ich dich geweckt?«
»Mhm.« Er kämpfte sich in eine sitzende Haltung hoch, stellte fest, dass er seine Badehose trug, ein T-Shirt, eine Sandale. »Ich mache gerade ein paar Übungen.«
»Echt?«
»Keine besonders anstrengenden«, versicherte Nick. Er hörte Gelächter im Hintergrund. »Läuft da eine Party?«
»Ich bin in der Schule«, antwortete Dmitri.
»Ist heute Schule?«
»Montag«, sagte Dmitri.
»Kommt mir vor wie Sonntag«, meinte Nick.
Schweigen. »Geht’s dir gut?«
»Prima«, sagte Nick. »Was macht –« Er fing sich, kurz bevor er Fußball sagte, als er sich erinnerte, dass er es bereits wusste.
»Ich muss los«, sagte Dmitri. »Ich bin auf dem Weg zu meinem Kurs.«
»Welches Fach?«
»Chemie.«
»Das war mein Lieblingsfach«, sagte Nick.
»Ich hasse es«, sagte Dmitri.
»Ging mir genauso«, meinte Nick. »Bis wir zum Oktan
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