Ausser Dienst - Eine Bilanz
herausragenden Kirchenleuten habe ich auch nach dem Ausscheiden aus allen Ämtern aufrechterhalten. Mehrfach hatte ich das Glück, den emeritierten Wiener Kardinal Franz König zu treffen. König, der im Jahr 2004 mit 98 Jahren starb, war ein wunderbar kluger Mann, der im Laufe seines Lebens wohl immer noch gläubiger geworden ist. Als ich ihn das letzte Mal in Wien besuchte, lebte er in einem der Kirche oder einem Orden gehörenden Haus und wurde von einer Nonne betreut, die seinen Haushalt führte. Beim Abschied gab er mir die Hand und sagte: »Herr Schmidt, vergessen Sie nicht die Kraft des persönlichen Gebets!« Im gleichen Augenblick begriff ich, daß ich ihn nicht wiedersehen würde; es war das Vermächtnis eines Menschen, der wußte, er würde sterben. Ich werde das nie vergessen. Königs Mahnung zum Gebet habe ich allerdings nicht befolgt. Einige Jahre später war ich abermals in Wien und wollte sein Grab besuchen. Ich erfuhr, daß der Kardinal in einer Gruft in der Krypta des Stephansdomes beigesetzt ist. Ich stieg hinunter, und da lagen – in Nischen übereinandergestapelt – die Särge der Wiener Erzbischöfe, darunter auch Franz Königs Sarg. Mir kamen die Tränen in der Erinnerung an diesen weisen Mann – und um die Tränen zu verbergen, habe ich zu dem mich begleitenden Monsignore irgendeine burschikose Bemerkung gemacht.
Während des Vierteljahrhunderts seit Ende meiner Kanzlerschaft habe ich nicht nur das Gespräch mit Vertretern der christlichen Kirchen fortgesetzt, sondern auch mehrere gläubige Muslime, Juden und Buddhisten näher kennengelernt. Auch im Gespräch mit Freunden in China, Korea und Japan habe ich manches über andere Religionen und über mir bis dahin fremde Philosophien gelernt. Diese Bereicherung hat meine Distanz zum Christentum vergrößert, sie hat zugleich meine religiöse Toleranz entscheidend gestärkt. Gleichwohl nenne ich mich immer noch einen Christen und bleibe in der Kirche, weil sie Gegengewichte setzt gegen moralischen Verfall in unserer Gesellschaft und weil sie Halt bietet. Wir Deutschen können nicht in Frieden miteinander leben ohne die auf dem Boden des Christentums entwickelten Pflichten und Tugenden.
Die christlichen Theologen lehren uns die drei »religiösen Tugenden«: Glaube, Liebe und Hoffnung. Daneben stehen die vier »Kardinaltugenden« des Thomas von Aquin: die Tugend der Klugheit, die Tugend der Mäßigung, die Tugend der Gerechtigkeit und die Tugend der Tapferkeit. Statt Tapferkeit würden wir heute wohl eher Standfestigkeit sagen oder auch einfach von Zivilcourage sprechen. Standfestigkeit ist besonders geboten, wo es um die Verteidigung des als richtig und notwendig Erkannten geht. Keiner der beiden christlichen Tugendkataloge aber enthält Achtung und Respekt vor der Würde der einzelnen Person. Dagegen hat unser Grundgesetz die Würde des Menschen zum Grundstein unseres Staates gemacht – mit vollem Recht. Ohne die Achtung der Würde des anderen und seiner Rechte kann es weder Gerechtigkeit noch Frieden geben.
Über alle anderen Tugenden schweigt das Grundgesetz. Gleichwohl sind uns die »bürgerlichen« Tugenden bewußt, die aufgrund eines groben Mißverständnisses gelegentlich als »Sekundärtugenden« bezeichnet werden. Ohne unsere persönliche Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl, ohne den Gemeinsinn, der das Gefühl für Anstand, Wahrhaftigkeit, Reinlichkeit und Ordnung einschließt, hat eine freie Gesellschaft keinen Bestand. Vor Jahrzehnten haben meine Freunde Marion Gräfin Dönhoff und Herbert Weichmann – fast wörtlich übereinstimmend – darauf hingewiesen, daß eine Gesellschaft ohne sittliche Normen sich auf Dauer gegenseitig zerfleischt. Um dies zu verhindern, haben wir die Aufgabe, den Nachwachsenden Beispiel zu geben. Und unsere Kirchen sollten uns dazu anstiften und ermutigen.
Kürzlich hat mich ein Freund gefragt, was denn für mich die Formel »So wahr mir Gott helfe« als Zusatz zum Amtseid, das heißt zum Schwur des Bundeskanzlers, bedeutet habe. Ich muß gestehen, ich wußte darauf keine bündig-kurze Antwort zu geben. Es wäre unwahr gewesen, wenn ich etwa geantwortet hätte, die Formel habe mein Vertrauen ausdrücken sollen, daß Gott mir helfen würde; denn ein solches gläubiges Vertrauen hatte ich in Wahrheit nicht. Selbst wenn das Wort Gott nur eine Metapher, eine Redensart wäre, die für den Kanon unserer ethischen Überzeugungen steht, läge die Verantwortung für die Einhaltung des beeideten
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