Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
kein Mann des Kleinen Volkes?
Doch es stand ihr nicht zu, danach zu fragen. Die Männer des Stammes – allen voran ein alter Mann mit den sehnigen Muskeln eines Schmieds und so schwarz wie seine Esse – bemalten den jungen Mann von Kopf bis Fuß mit blauem Waid. Dann warfen sie ihm einen Umhang aus ungegerbten Fellen um und rieben ihn mit Hirschfett ein. Auf seinem Kopf befestigten sie ein Geweih. Ein leiser Befehl, und er hob und senkte das Haupt, um festzustellen, daß sich nichts lockerte.
Morgaine blickte auf und sah die stolze Bewegung seines Kopfes. Plötzlich durchrann sie ein Schauer, ihre Waden spannten sich, und das Wissen drang in den geheimsten Teil ihres Körpers.
Es ist der Gehörnte. Es ist der Gott. Es ist der Gefährte der Jungfräulichen Jägerin.
Man
band ihr ein Gewinde aus roten Beeren um den Kopf und krönte sie mit den ersten Frühlingsblumen. Die kostbare Kette aus Gold und Horn wurde ehrfürchtig vom Hals der Stammesmutter genommen und Morgaine umgelegt. Sie spürte ihre Schwere wie das Gewicht des Zaubers. Die aufgehende Sonne blendete sie. Man gab ihr etwas in die Hand – eine Trommel aus gespannter Haut über einem umwundenen Reifen. Sie hörte sich trommeln, als kämen die Töne von weit her.
Sie standen an einem Abhang und blickten in ein dicht bewaldetes Tal, das sich leer und schweigend vor ihnen ausdehnte. Doch Morgaine sah das Leben des Waldes – sah die Hirsche, die auf schlanken Beinen lautlos zwischen den Bäumen wanderten; sah die Tiere, die im Geäst kletterten, und sah die Vögel, die ihre Nester bauten. Alles schwirrte, sprang und eilte dahin im Überschwang der ersten schäumenden Woge des Frühlings. Sie drehte sich um und sah den Hügel hinter sich. Über ihnen, eingeritzt in den weißen Kalkstein, leuchtete eine riesige Figur, sie konnte nicht sagen, ob Mensch oder Tier. Alles verschwamm vor ihren Augen. War es ein springender Hirsch, ein schreitender Mann mit aufgerichtetem Geschlecht… auch er im Frühlingsrausch?
Den jungen Mann an ihrer Seite sah sie nicht. Sie spürte nur das drängende Leben in ihm. Ein feierliches, erwartungsvolles Schweigen lag über dem Hügel. Die Zeit löste sich auf, wurde wieder durchsichtig. Zeit war etwas, in dem sie sich bewegte, badete und das sie frei durcheilte. Die Trommel lag wieder in der Hand der Alten.
Aber Morgaine wußte nicht mehr, daß sie ihr die Trommel gegeben hatte. Und wieder blendete die Sonne sie, als Morgaine den Kopf des Gottes in ihren Händen spürte und ihn segnete. Etwas in diesem Gesicht… natürlich, ehe diese Hügel aufstiegen, kannte sie dies Gesicht schon… diesen Mann, ihren Gefährten. Sie kannte ihn, schon ehe die Welt begann… Sie hörte ihre rituellen Worte nicht, sondern spürte nur die Kraft, die in ihnen lag:
Geh und erringe den Sieg… laufe mit den Hirschen… schnell und stark wie die Fluten des Frühlings… gesegnet seien auf ewig die Füße, die dich hierher trugen…
Sie war sich der Worte nicht bewußt, nur der Kraft, nur der segnenden Hände und der Stärke, die ihrem Körper entströmte…
durch
ihren Körper strömte, als fließe die Kraft der Sonne mitten durch sie hindurch und in den Mann vor ihr.
Die Kraft des Winters ist gebrochen, das neue Leben des Frühlings soll dich begleiten und dir den Sieg bringen… das Leben der Göttin, das Leben der Welt, das Blut der Erde, das unsere Mutter für ihr Volk vergossen hat…
Morgaine hob die Hände und segnete den Wald, die Erde und spürte, daß die Wogen der Macht wie sichtbares Licht durch ihre Hände strömten. Der Körper des jungen Mannes strahlte in der Sonne wie ihr eigener. Niemand der Umstehenden wagte zu sprechen. Mit einer schnellen Bewegung erhob sie die Hände. Sie spürte, wie die Woge der Kraft sich nun über alle ausbreitete – das Zeichen für den Gesang, der sich mit Mächtigkeit erhob. Sie hörte nicht die Worte, nur den Pulsschlag der Macht, die ihnen innewohnte:
Das Leben erwacht im Frühling. Die Hirsche hetzen durch den Wald, und unser Leben hetzt hinter ihnen her.
Der König der Hirsche wird sie bezwingen… der König der Hirsche, der Gehörnte, den die Mutter gesegnet hat, soll triumphieren…
Morgaines Körper war bis zum Zerreißen gespannt… ein schußbereiter Bogen, auf dessen Sehne der Pfeil der Macht lag, der sein Ziel finden mußte. Dann berührte sie den Gehörnten und ließ der Macht freien Lauf. Alle schienen von ihr erfaßt; sie sprangen auf und davon, jagten wie der Wind den Abhang
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