AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
antworten konnte, drehte er sich um und schlich den Korridor entlang. Sie machte kaum ein Geräusch, aber sein Nacken prickelte, er spürte ihre Nähe mit jeder Faser seines Körpers. Gewaltsam zwang er seine Aufmerksamkeit auf den Weg, der vor ihnen lag. Er durfte sich nicht ablenken lassen ...
Am Ende des Ganges stießen sie auf die Treppe. Öllampen brannten in muschelförmigen Wandnischen. Auch die Wände des unteren Stockwerkes waren bemalt, aber den Boden bedeckten keine Steinfliesen, sondern honigfarbene Holzbohlen.
Jermyn zog den ausgestreckten Fuß zurück und fluchte leise.
»Was ist?«
»Dieser verdammte Holzboden. Ich wette, es sind Nachtigallenbretter dabei. Hätt ich mir denken können!«
»Nachtigallenbretter?«
»Ja, die Bohlen knarren, wenn man darüber geht, so dass man sich nicht unbemerkt nähern kann.«
»Und welche Bretter sind das?«
»Woher soll ich dass wissen? Glaubst du, sie machen ein Kreuzchen drauf?«
Er wusste, dass er in seinem Ärger ungerecht war. Woher sollte sie die Kniffe kennen, mit denen sich ein mächtiger Patron vor seinen Feinden schützte?
»Es können nur wenige vor der Tür sein«, erklärte er, »es kann aber auch der ganze Flur mit ihnen voll sein. Kannst du dich nicht mit ihnen verbinden, wie mit den Steinen?«
Ninian wiegte zweifelnd den Kopf, aber sie schloss die Augen und versuchte in die Holzbohlen zu lauschen. Schon nach kurzer Zeit zog sie sich zurück.
»Das Holz ist seit langem tot«, sagte sie zögernd, »es kann nicht mehr antworten. Aber unter manchen Bohlen fühle ich keinen Stein, nur einen
Hohlraum. Ich weiß nicht, ob das was zu sagen hat.«
»Kann schon sein, wir müssen es damit versuchen. Geh voran und vermeide die Bretter über den Hohlräumen.«
Wieder schloss sie die Augen und setzte vorsichtig den Fuß auf den schimmernden Boden. Im Zickzack tastete sie sich den Gang entlang und Jermyn folgte ihr dicht auf den Fersen. Sie schienen richtig vermutet zu haben, keine der Bohlen, die sie berührten, gab einen Laut von sich.
Sie blieb so plötzlich stehen, dass Jermyn beinahe in sie hineinrannte. Einen Augenblick rührte sie sich nicht, überquerte dann mehrere Bohlen mit einem Satz und landete wenige Schritte vor einer kunstvoll geschnitzten Holztür am Ende des Ganges.
»Hier ist noch eine hohle Stelle«, flüsterte sie über die Schulter und er nickte zufrieden.
»Wir haben's geschafft. Das sieht wie die Tür zu seinem Schlafzimmer aus. Mal sehen, wie gut er sein Allerheiligstes geschützt hat. Halt die Lampe so, dass das Licht direkt auf das Schlüsselloch fällt. Das wird schwieriger als das andere Schloss.«
Die Ahnung trog ihn nicht. Vergeblich stocherte er in dem widerspenstigen Loch, einen Haken nach dem anderen musste er zurücklegen. Gereizt streifte er die Kapuze ab, Schweiß rann ihm in die Augen, er wischte ihn mit dem Ärmel weg. Der Lichtschein flackerte unruhig, als Ninian die Laterne in die andere Hand wechselte.
»Halt still, verdammt«, zischte er, ohne aufzusehen. Gleich darauf ärgerte er sich, er verlor seine Gelassenheit, Ninian konnte nichts dafür, dass er nicht in der Lage war, dieses vertrackte Schloss zu öffnen. Aber er würde sie nicht bitten, die Angeln aus der Mauer zu hebeln, nicht, bevor alles andere versagt hatte ...
Eine Weile versuchte er es weiter, doch schließlich musste er sich eingestehen, dass er dem Mechanismus nicht gewachsen war. Mehr aus Wut nahm er endlich einen schweren Haken heraus, mit dem man Dachluken und Kaminklappen aufstemmte. Das grobe Werkzeug verfing sich und in aufsteigender Panik zerrte er daran.
»Scheißding ...«
Mit unheilvollem Knacken löste sich der Haken. Jermyn verlor das Gleichgewicht, ließ ihn los und das schwere Metallteil polterte zu Boden. Er selbst landete mit beiden Händen auf der Türschwelle. Ein hohes, durchdringendes Quietschen zerriss die nächtliche Stille und die beiden Eindringlinge erstarrten, lauschten mit angehaltenem Atem auf herbeieilende Schritte und laute Rufe. Doch alles blieb still, als sei das Haus ausgestorben.
Jermyn ließ sich zu Boden sinken. Neben dem Haken lagen abgebrochene Metallstifte.
»Das Schloss ist hin«, murmelte er, »fragt sich, ob's was genutzt hat.«
Er legte die flache Hand auf die Schnitzereien und drückte vorsichtig. Die Tür schwang lautlos nach innen.
Hastig sammelte er sein Handwerkszeug in den Beutel und sie schlüpften in den dunklen Raum, sorgfältig darauf bedacht, nicht auf die Schwelle zu treten.
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