Ayesha - Sie kehrt zurück
Meine Gäste, was sagt ihr zur Begräbnisgrube der Kinder der Hes?«
»Unser Glaube berichtet von einer Hölle, Lady«, antwortete Leo, »und ich finde, daß dieser kochende Kessel wie ihre Pforte aussieht.«
»Nein«, antwortete sie, »es gibt keine Hölle, außer der, die wir von einem Leben zum anderen selbst schaffen. Leo Vincey, ich sage dir, daß die Hölle hier ist – hier! « Und sie schlug mit der Hand vor ihre Brust. Dabei sank ihr Kopf wieder nach vorn, wie von der Last eines unsichtbaren Elends gebeugt.
So blieb sie eine Weile sitzen, dann blickte sie wieder auf und sagte: »Mitternacht ist vorüber, und vieles muß getan und erlitten werden, bevor es dämmert. Ja, das Dunkel muß zu Licht werden – oder das Licht zu ewigem Dunkel.«
»Khania Atene«, fuhr sie fort, »gemäß dem ihm zustehenden Recht hast du deinen toten Herrn zur Beisetzung an diesen geheiligten Ort gebracht, wo die Asche all derer, die vor ihm waren, zur Nahrung für die heiligen Flammen geworden sind. Oros, mein Priester, rufe du den Ankläger und den Verteidiger herbei und lasse die Bücher öffnen, auf daß ich über den Toten richten und seine Seele ins Leben zurückrufen kann, oder beten, daß der Atem des Lebens ihm nicht gewährt werde.
Priester, hiermit erkläre ich das Totengericht für eröffnet.«
15
Das zweite Gottesurteil
Oros verneigte sich tief und verließ die Felsenkammer. Die Hesea wies uns durch Zeichen an, uns rechts von ihrem Thron zu stellen, und die Khania, zu ihrer Linken zu stehen. Jetzt traten lautlos Priester und Priesterinnen in die Kammer und reihten sich entlang der Wände auf. Es mögen ihrer fünfzig gewesen sein. Dann traten zwei Männer herein, die schwarze, hochgeschlossene Tuniken trugen und ihre Gesichter hinter schwarzen Masken verbargen. Sie hielten Pergamentbände in ihren Händen und stellten sich zu beiden Seiten des Leichnams. Oros trat vor das Fußende der Bahre und blickte die Hesea an.
Sie hob jetzt das Sistrum, das sie in der rechten Hand hielt, und in Befolgung dieses lautlosen Befehls sagte Oros: »Öffnet die Bücher!«
Der maskierte Ankläger, der zur rechten Seite des Toten stand, schlug sein Buch auf und begann von seinen Seiten abzulesen. Es war eine lange Aufstellung von Sünden, die der Tote begangen hatte, und sie wurden ausführlich und mit allen Details wiedergegeben, als ob der Ankläger das Gewissen des toten Khan sei, dem Leben und Stimme verliehen worden war. Nüchtern und mit größter Akribie waren die Missetaten seiner Kindheit, seiner Jugend und seiner Mannesjahre aufgezeichnet, und so massiert bildeten sie wahrlich eine düstere Aufstellung.
Ich lauschte mit Verwunderung und fragte mich, welcher Spion angesetzt worden war, um alle Übeltaten dieses Mannes von seiner Geburt bis zum Tod so vollständig und genau festzuhalten; und überlegte mir mit einem leisen Schaudern, wie düster ein so komplettes Sündenregister bei mir aussehen mochte, wenn ein Spion meinen Lebensweg von der Wiege an verfolgt hätte.
Schließlich aber kam der Ankläger zum Ende. Die letzten Eintragungen in seinem Buch befaßten sich mit der Ermordung des Lords am Ufer des Flusses und mit seinem Anschlag auf unser Leben; sie sprachen von seiner sadistischen Jagd mit den Hunden des Todes und ihrem Ausgang. Dann schloß der Ankläger das Buch, warf es zu Boden und sagte: »So steht es geschrieben, o Mutter. Urteile du über alles, da dir die Weisheit dazu gegeben wurde!«
Ohne ein Wort zu sprechen deutete die Hesea mit ihrem Sistrum auf den Verteidiger, der daraufhin das Siegel seines Buches zerbrach und zu lesen begann.
Die Eintragungen seines Buches sprachen von dem Guten, das der tote Khan getan hatte, erwähnten jedes gütige Wort, das er geäußert hatte, jede freundliche Geste, die Pläne, die er für die Wohlfahrt seiner Untertanen gemacht hatte, die Versuchungen, denen er widerstanden hatte, die ehrliche Liebe, die er gegenüber jener Frau empfunden habe, die dann seine Gemahlin wurde, die Gebete, die er gesprochen, die Opfergaben, die er zum Tempel der Hes gesandt hatte.
Ohne ihren Namen zu nennen, wurde festgestellt, daß seine Frau ihn gehaßt habe, daß sie und ihr Großonkel, der Magier, der sie großgezogen und unterrichtet habe, ihm andere Frauen zugeführt hätten, um ihn auf Abwege zu führen, damit sie von ihm befreit sei. Das Buch beschrieb, wie die beiden den Khan durch einen Gifttrank zum Wahnsinn getrieben hätten, wie durch das Gift seine
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