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AZRAEL

AZRAEL

Titel: AZRAEL Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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überzeugt. Anscheinend sah er das auch selber ein, denn nach ein paar Augenblicken sagte er: »Ach der. Er fährt schon eine ganze Weile hinter mir her. Anscheinend verletzt es seinen Stolz, auf einen schnelleren Wagen zu treffen. Sollen wir ihn anhalten? Sein Gesicht, wenn ich in Uniform aus dem Wagen steige, ist bestimmt sehenswert.«
    Mark hakte das Thema in Gedanken ab. Er hatte wirklich andere Probleme. Anscheinend hatte dieser Bremer eine gehörige Macke, Polizeibeamter oder nicht. Oder er war sehr viel raffinierter, als er bisher angenommen hatte. Aber das spielte keine Rolle. »Wir sind jetzt gleich da«, sagte er.
    Zu Fuß hätte er für den Weg sicher noch eine Stunde gebraucht, aber das Tempo, das Bremer vorgelegt hatte, hatte ihn auf wenige Minuten zusammenschmelzen lassen. Seltsamerweise war er überhaupt nicht froh darüber. Auch wenn es keine bewußte Entscheidung gewesen war, war ihm doch klar, weshalb er hier war: um mit dem einzigen Menschen zu reden, der die Geschichte seines Vaters bestätigen konnte - mit seiner Mutter. Zugleich aber hatte er Angst davor. Selbst wenn sie - was unwahrscheinlich war - seine Frage verstand, und selbst wenn sie - was noch unwahrscheinlicher war - darauf antwortete, hätte er nicht einmal sagen können, welche Antwort er hören wollte. Die, daß alles gelogen war und sein Vater ein Ungeheuer sei, das sich diese phantastische Geschichte nur ausgedacht hatte, um sich von seiner eigenen Schuld reinzuwaschen und seinen, Marks, Widerstand vielleicht für alle Zeiten zu brechen? Oder die, daß es die Wahrheit war und er allein die Schuld daran trug, daß seine Mutter als seelisches Wrack dahinvegetierte und sein Leben in den letzten sechs Jahren die Hölle gewesen war?
    Als hätte er seine Gedanken gelesen, fragte Bremer in diesem Moment: »Sie besuchen Ihre Mutter?«
    »Nein«, antwortete Mark fast erschrocken. »Das habe ich heute morgen getan, bevor ich nach Hause gekommen bin. Ich bin hier... mit jemandem verabredet. Privat«, fügte er hinzu, um jede entsprechende Frage Bremers von vornherein abzublocken. Der Polizist zog vielsagend die Augenbrauen hoch, aber er hatte den Tonfall, in dem Mark das letzte Wort ausgesprochen hatte, bemerkt und richtig gedeutet. Er sagte nichts.
    Sie hatten ihr Ziel auch beinahe erreicht. Die Abzweigung zur Klinik lag unmittelbar vor ihnen. Bremer bremste unnötig hart ab, steuerte den Wagen um die Kurve und gab wieder so heftig Gas, daß Mark in den Sitz gepreßt wurde. Er sah in den Rückspiegel, und auch Mark behielt die Straße hinter ihnen aufmerksam im Auge. Es verging eine ganze Weile, ehe der blaue BMW hinter ihnen an der Einmündung vorbeifuhr und verschwand.
    »Schade«, sagte Bremer. »Und ich hätte ihm so gerne eine Überraschung bereitet.« Er lachte dabei, aber dieses Lachen kam Mark ein bißchen zu laut vor, und er sah gerade lange genug in den Spiegel, um seinen Worten das meiste von ihrer Glaubwürdigkeit zu nehmen. Mark war mittlerweile davon überzeugt, daß dieser Wagen sie verfolgt hatte - aber das ging ihn nichts an. Unter normalen Umständen hätte er die Situation sicher als aufregend empfunden und versucht, nähere Einzelheiten zu erfahren; aber heute und jetzt hatte er genug mit sich selbst zu tun. Er schwieg, bis sie den Parkplatz der Klinik erreicht hatten und Bremer den Mercedes unweit der großen Marmortreppe zum Stehen brachte.
    Ohne ein Wort stiegen sie aus. Und obwohl sie nicht zusammengehörten, wartete Mark ganz automatisch, bis der Polizist die Türen verriegelt hatte und um den Wagen herumgekommen war, um neben ihm die Treppe zum Hauptportal hinaufzugehen.
    Es war ein sehr sonderbares Gefühl. Mark fühlte sich niemals wohl, wenn er hierher kam, aber jetzt war es anders. Er hatte beinahe Angst. So ungefähr, dachte er, mußte sich ein Delinquent fühlen, der die Stufen zum Schafott hinaufschritt. Dieses Gebäude hatte niemals Gutes für ihn bereitgehalten, aber nun beheimatete es ein weiteres düsteres Geheimnis, von dem er immer noch nicht genau wußte, wie es aussah, wohl aber, daß es sein Leben unwiderruflich und für alle Zeiten verändern würde, ganz gleich, wie die Antworten auf seine Fragen ausfielen. In gewissem Sinne erwartete ihn dort drinnen tatsächlich ein kleiner Tod - nicht das Ende seiner körperlichen Existenz, wohl aber der Abschied von jenem hochkomplizierten, verworrenen und im Grunde doch so simplen Bild aus Frustration, Zorn, Haß und Schuldzuweisungen, das sein Leben und seine

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