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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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strähnig, und ein spärlicher zweigeteilter Bart bedeckte das, was ihm vom Kinn noch geblieben war. Er streifte sich die Handschuhe ab, und zum Vorschein kamen knochendürre, mit schwarzen Knötchen übersäte Hände.
    »Das ist die Lepra, Baudolino, die Lepra, die weder Könige noch andere Machthaber dieser Erde verschont. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr trage ich dieses Geheimnis in mir, von dem mein Volk nichts ahnt. Ich habe die Eunuchen gebeten, Boten an meinen Vater zu schicken, damit er weiß, daß ich ihm nicht werde auf dem Thron folgen können, und sich beeilt, einen anderen Erben heranzuziehen - sollen sie ruhig sagen, ich sei gestorben, ich werde mich in einer Kolonie meiner
    Leidensgenossen verbergen, und niemand wird mehr etwas von mir hören. Aber die Eunuchen behaupten, mein Vater wolle, daß ich bleibe. Und das glaube ich ihnen nicht. Den Eunuchen kommt ein schwacher Diakon sehr gelegen, vielleicht werden sie, wenn ich gestorben bin, meinen einbalsamierten Leib in dieser Höhle behalten, um im Namen meines Leichnams zu
    regieren. Vielleicht wird, wenn der Priester gestorben ist, einer von ihnen meinen Platz einnehmen, und niemand wird sagen können, daß nicht ich es bin, denn hier hat nie jemand mein Gesicht gesehen, und im Reich hat man mich nur gesehen, als ich noch an der Mutterbrust lag. Verstehst du jetzt, Baudolino, warum ich den Tod durch Verschmachten vorziehe, ich, der ich schon bis auf die Knochen vom Tod durchdrungen bin? Ich werde nie Ritter sein, ich werde nie Liebender sein. Auch du bist soeben, du hast es gar nicht gemerkt, drei Schritte
    zurückgewichen. Und vielleicht hast du bemerkt, daß Praxeas mindestens fünf Schritte Abstand hält, wenn er mit mir redet.
    Schau her, die einzigen, die es wagen, mir nahe zu sein, sind diese beiden verschleierten Eunuchen: junge Leute wie ich, die
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    an derselben Krankheit leiden und daher berühren können, was ich berührt habe, ohne etwas zu verlieren. Erlaube, daß ich mich wieder verhülle, vielleicht wirst du mich nicht noch einmal deines Mitgefühls oder gar deiner Freundschaft unwürdig finden.«
    »Ich rang nach Worten des Trostes, Kyrios Niketas, aber mir fiel nichts ein. Ich schwieg. Dann sagte ich ihm, vielleicht sei unter allen Rittern, die zum kühnen Sturm auf eine Stadt ansetzten, der wahre Held er, der sein Schicksal in Schweigen und Würde ertrug. Er dankte mir und bat mich, ihn für den Rest jenes Tages allein zu lassen. Aber von nun an war ich diesem unglücklichen Menschen herzlich zugetan, ich besuchte ihn täglich und erzählte ihm von meinen einstigen Lektüren, von den Diskussionen am Hof des Kaisers, ich beschrieb ihm die Orte, die ich gesehen hatte, von Regensburg bis Paris, von Venedig bis Byzanz, und dann Ikonion und Armenien und die Völker, denen wir auf unserer Reise begegnet waren. Ihm war es beschieden zu sterben, ohne je etwas anderes gesehen zu haben als die Felsenhöhlen von Pndapetzim, und ich versuchte, ihn durch meine Erzählungen am Leben teilhaben zu lassen. Und vielleicht habe ich auch manches erfunden, ich erzählte ihm von Städten, die ich nie besucht, von Schlachten, die ich nie geschlagen, von Prinzessinnen, die ich nie besessen hatte. Ich schilderte ihm die Wunder der Länder der sinkenden Sonne. Ich ließ ihn herrliche Sonnenuntergänge über der Propontis
    genießen, smaragdene Reflexe auf dem Wasser der Lagune von Venedig, ein Tal in Hibernia, wo sieben weiße Kirchen sich am Ufer eines stillen Sees aufreihen, zwischen Herden ebenso weißer Schafe, ich schilderte ihm, wie die Gipfel der Alpen stets mit einer weichen weißen Masse bedeckt sind, die sich im Sommer in majestätische Katarakte auflöst und in Flüsse und Bäche ergießt an sanften Hängen unter üppigen Kastanien, ich erzählte ihm von den Salzwüsten, die sich an den Küsten Apuliens erstrecken, ich ließ ihn erzittern, indem ich vor seinen
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    Augen Meere heraufbeschwor, die ich nie befahren hatte, aus denen Fische springen, groß wie Kälber, aber so zahm, daß die Menschen auf ihnen reiten können, ich berichtete ihm von den Reisen des heiligen Brendan zu den Inseln der Seligkeit und wie der Heilige eines Tages im Glauben, er sei auf einer Insel im Meer gelandet, auf den Rücken eines Wals trat, der ein Fisch von der Größe eines Berges ist und ein ganzes Schiff
    verschlingen kann, aber ich mußte ihm auch erklären, was ein Schiff ist, nämlich ein Fisch aus Holz, der durchs Wasser pflügt, indem er weiße Flügel

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