Baudolino
schließlich gelingt es, die reinigenden Tugenden zu erwerben: Wir probieren, die Seele vom Leib zu trennen, wir lernen, die Götter zu
beschwören - nicht von den Göttern zu reden, wie es die anderen
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Philosophen taten, sondern auf sie einzuwirken, indem wir mit Hilfe einer magischen Kugel Regen fallen lassen, indem wir uns Amulette gegen die Erdbeben umhängen, indem wir die
wahrsagerischen Kräfte der Dreifüße erkunden, indem wir die Statuen mit Leben erfüllen, um von ihnen Orakel zu erhalten, indem wir Asklepios anrufen, daß er die Kranken heile. Aber wohlgemerkt, während wir dies alles tun, müssen wir immer vermeiden, von einem Gott besessen zu sein, denn wer besessen ist, gerät in Verwirrung und erregt sich und entfernt sich infolgedessen von Gott. Man muß lernen, dies alles in
absolutester Ruhe zu tun.«
Hypatia nahm Baudolinos Hand, und er hielt seine Hand ganz still, damit dieses wunderbare Wärmegefühl nicht aufhörte.
»Baudolino, vielleicht habe ich dich glauben lassen, ich sei schon fortgeschritten in der Askese wie meine größeren
Schwestern... Wenn du wüßtest, wie unvollkommen ich noch bin! Ich vertue mich immer noch, wenn ich eine Rose in
Kontakt mit der höheren Macht bringen will, mit der sie befreundet ist... Und außerdem, du hörst ja, ich rede noch viel zuviel, und daran sieht man, daß ich noch nicht weise bin, denn die Tugend erwirbt man im Schweigen. Aber ich rede soviel, weil du da bist und unterwiesen werden mußt, und wenn ich eine Sonnenblume unterweise, warum dann nicht auch dich?
Wir werden eine höhere Stufe der Vollkommenheit erreichen, wenn es uns gelingt, zusammenzusein, ohne zu reden. Dann genügt eine Berührung, und du wirst trotzdem verstehen. Wie bei der Sonnenblume.« Sie streichelte schweigend die
Sonnenblume.
Dann begann sie, immer noch schweigend, Baudolinos Hand zu streicheln, und sagte am Ende nur: »Merkst du?«
Am nächsten Tag sprach sie über das bei den Hypatien geübte Schweigen, damit auch er es erlerne, wie sie sagte. »Man muß eine absolute Stille ringsum erzeugen. Dann setzen wir uns in
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entlegener Einsamkeit vor das, was wir uns dachten, uns ausdachten und empfanden. So gelangen wir zu Ruhe und
Frieden. Wir werden dann weder Zorn noch Verlangen, weder Schmerz noch Glück mehr empfinden. Wir werden aus uns
selbst herausgetreten sein, entrückt in absoluter Einsamkeit und tiefster Stille. Wir werden nicht mehr die schönen und guten Dinge betrachten, wir werden über das Schöne als solches hinausgelangt sein, jenseits des Schönen als Begriff, jenseits des Chores der Tugenden, so wie diejenigen, die ins Allerheiligste des Tempels eingetreten sind, die Statuen der Götter hinter sich gelassen haben und nicht mehr Bilder sehen, sondern Gott selbst schauen. Wir werden keine Mittlerkräfte mehr anrufen müssen, sondern werden sie überwunden und ihren Mangel besiegt
haben in jener Nische, jenem unzugänglichen heiligen Ort, wir werden hinausgelangt sein über das Göttergeschlecht und die Hierarchien der Äonen, all dies wird für uns nur noch
Erinnerung sein an etwas, das wir von seinem Leiden am Dasein geheilt haben. Dies wird das Ende des Weges sein, die
Befreiung, die Lösung aus allen Fesseln, die Flucht dessen, der nunmehr allein unterwegs zum Einen und Einzigen ist. In dieser Rückkehr zum absolut Einfachen werden wir nichts anderes mehr sehen als die Glorie der Dunkelheit. Entleert von Seele und Verstand, werden wir über das Reich des Geistes
hinausgelangt sein, werden uns in Verehrung dort niederlassen, als wären wir eine aufgehende Sonne, mit geschlossenen Augen werden wir in die Sonne des Lichtes blicken, werden zu Feuer werden, zu dunklem Feuer in jenem Dunkel, und durch den Weg des Feuers werden wir unseren Weg vollenden. Und das wird der Augenblick sein, da wir, nachdem wir den Lauf des Flusses zurückverfolgt haben und nicht nur uns selbst, sondern auch den Göttern und Gott bewiesen haben, daß man gegen den Strom zurückrudern kann - das wird der Augenblick sein, da wir die Welt geheilt, das Böse getötet, den Tod haben sterben lassen, der Augenblick, da wir den Knoten gelöst haben, in dem sich die
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Finger des Demiurgen verfangen hatten. Uns, Baudolino, uns ist es beschieden, Gott zu heilen, uns ist seine Erlösung anvertraut worden: Durch unsere Ekstase werden wir die ganze Schöpfung zurück ins Herz des Einen und Einzigen bringen. Wir werden ihm die Kraft geben, jenen großen Atemzug zu tun,
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