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Begegnung in Tiflis

Begegnung in Tiflis

Titel: Begegnung in Tiflis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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so viel Glück sieht, so viel Liebe und Küssen, Umarmungen und dumme gestammelte Worte? Einen Augenblick lang dachte Pikalow sogar an Rußland und an den Jammer, hier leben zu müssen, anstatt eine Weinschenke auf der Krim zu haben oder ein konzessioniertes Tanzlokal in Jalta. Das trieb ihm die Tränen in die Augenwinkel, er seufzte tief, und die ganze Schwermut des Russen kam über ihn. Er umarmte Dimitri und Kolka, nannte sie einen Teil seines Herzens und ließ dann in einer Ecke des Lokals einen Tisch für sie reservieren und eine spanische Wand davor aufstellen, denn wen interessiert schon das Gehopse der Tänzerinnen. Dort saßen sie dann alle, aßen gebratenen Stör und tranken Krimsekt.
    »Eine schaurige Musik«, sagte Kolka, als das Balalaika-Orchester begann, gespielt von echten Libanesen in russischen Kosakenuniformen. »Daß du's mit deinen russischen Ohren ertragen kannst, Ilja Matwejewitsch?«
    »Das Geschäft, Brüderchen, nur das Geschäft!« Pikalow hob die Hände empor, als müsse er schwören, daß er Rußland mit dieser Musik nicht beleidigen wolle. »Man liebt es so. Man glaubt, so ist Rußland. Man ist es so gewöhnt durch die Filme und westlichen Bücher. Nicht anders will man uns sehen als wie einen Kosaken, der herumhüpft wie von einem Floh gezwickt. Würde man ihnen zeigen, wie es wirklich ist, nicht eine Maus würde sich herablassen, in dieses Lokal zu scheißen. O Freunde, das Leben ist ein Betrug! Vor allem hier im Westen. Sie leben alle nur so glücklich, weil sie belogen werden. Doch was soll's. Auf euer weiteres Leben!«
    So ging man am frühen Morgen auseinander in bester Harmonie. Noch einmal mußte Dimitri in seiner Kammer unterm Dach schlafen, und er nahm von Bettina Abschied, als ginge er wieder auf eine weite Reise.
    »Neidisch kann man werden«, sagte Pikalow, der mit Kolka vor der ›Datscha‹ stand und wartete, bis sich die Liebenden trennen konnten. Die Leuchtreklame war erloschen. Die Theaterkulisse des Bareingangs wirkte nun fahl, abgeschabt, mies und schäbig. In der Nebenstraße, um die Ecke herum, erbrach sich ein Betrunkener. Man hörte sein Würgen und Keuchen, und als er jetzt einen Wind fahren ließ, sagte er laut: »Good wind!«
    Ein amerikanischer Matrose gewiß.
    »Was werdet ihr tun?« fragte Pikalow nach dieser Unterbrechung. Kolka sah hinauf in den blasser werdenden Nachthimmel. Der Morgen dämmerte überm Meer.
    »Ich werde dort anfangen, wo ich vor dreiundzwanzig Jahren aufhörte. Meine Frau hat ein Textilgeschäft in Göttingen; ich werde Handtücher verkaufen, Babywäsche, Windeln und Bettbezüge, ich werde die Buchhaltung machen, die Steuererklärungen, die Inventurmeldungen, die Einkäufe bei den Großhändlern.« Kolka sah zurück zu Dimitri und Bettina. Sie standen noch immer eng umschlungen im Eingang der ›Datscha‹ und küßten sich. »Und einmal werde ich Großvater sein«, sagte er leise. »Dann habe ich genug zu tun mit der Aufzucht meiner Enkel.«
    »Und was werden sie werden?« fragte Pikalow, und es war eine ungewollt infernalische Frage. »Deutsche oder Russen!«
    Kolka schwieg. Pikalow sprach aus, wovor er sich fürchtete, seit sie Rußlands Boden verlassen hatten. Er war nun nicht mehr Kolka Iwanowitsch Kabanow, sondern Karl Wolter, geboren in Göttingen, zuletzt Feldwebel, Vater zweier Kinder. Ein Totgesagter, der nach über zwanzig Jahren heimkehrte. Er war mit dem Betreten des Bodens der sogenannten freien Welt das seltene Exemplar Mensch, das zwanzig Jahre aus seinem Leben wegstreichen konnte, als habe er sie einfach verschlafen.
    Zwanzig lange Jahre.
    Wie hatte er sie gelebt, wie hatte er dieses Leben geliebt, der Kolka Kabanow aus Tbilisi! Ein herrliches Leben war es gewesen, und er würde es jedem sagen, der ihn danach fragte. Nein, es war kein Gefängnis, dieses Leben in Rußland. Nein, er war sich nicht vorgekommen wie ein Sträfling. Nein, er hatte dieses Land und seine Menschen geliebt. Er hatte einen Sohn großgezogen, hatte russisch denken und fühlen gelernt, war ein Mensch aus Tiflis geworden, ein echter Grusinier, und es waren die schönsten Jahre seines Lebens, die er an den Weinhängen des Kaukasus verbracht hatte. Und er würde zu allen, die ihn so dumm politisch fragten, immer nur nein, nein, nein sagen und ihnen zurufen: »Ihr kennt den Russen nicht! Ihr kennt nur die Fratze des Kriegs … aber den Menschen, Leute, den Menschen solltet ihr kennen. Dann liebt ihr ihn auch!«
    Kolka wußte jetzt schon, daß er sich

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