Bélas Sünden
kenne ihn. Manchmal holt er sie von der Schule ab. Dann treiben sie es im Auto. Zu Hause ist das schlecht. Die Mutter ist zwar berufstätig, aber trotzdem oft zu Hause. Manchmal treffen sie sich auch in der Wohnung einer Freundin. Da ist es immer besonders toll. Ist ja ein Unterschied, ob man’s im Bett macht oder auf dem Rücksitz im Auto. Er ist ganz verrückt nach ihr. Aber manchmal hat er Skrupel, ein schlechtes Gewissen und so. Er will sich auch nicht von ihrer Mutter trennen.«
Nach dieser Erklärung hatte sie es plötzlich sehr eilig, legte das Buch zurück auf den Stapel, warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Du, ich muss los, ich wollte gar nicht so lange bleiben. Papa kommt gleich. Wir müssen noch einkaufen.«
Nachdem sie weg war, saß ich minutenlang einfach nur da. Mir kam nicht etwa die Erleuchtung, ich hatte doch die junge Blondine aus dem Lokal im Verdacht. Aber was Marion gesagt hatte, war ein Aspekt, den ich bisher nicht genügend berücksichtigt hatte. Ich hatte mich ausführlich über die Empfindungen des Kindes ausgelassen, über die Ängste, das Unbehagen, die Schmerzen am Anfang. Auch über die Gefühle der Frau hatte ich bereits genug geschrieben. Aber da war ja auch noch das junge Mädchen, sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre alt. Ein Alter, in dem man die ersten sexuellen Erlebnisse hat, in dem viel darüber gesprochen wird, in dem man Vergleiche zieht. Und er war ein Mann mit Erfahrung. Das Herz liebte, der Körper durfte genießen. Und wieder ein Stück zurück im Text. Als Béla auftauchte, um sich zu erkundigen, was Marion so lange bei mir gemacht und worüber wir gesprochen hatten, war ich bereits mitten in einer Liebesszene. Ein junges Mädchen, ein Mann Ende dreißig, attraktiv, zärtlich, geduldig, nicht nur auf schnelle Befriedigung aus. Und montags fuhr ich nach München. Dort holte Dierk mich ab. Es war noch etwas Zeit bis zur Lesung. Wir tranken einen Kaffee, unterhielten uns über die erneute Änderung. Dierk hörte mir eine Weile schweigend zu, so aufmerksam, wie ich es von ihm gewohnt war. Als ich wieder schwieg, meinte er:
»Ich weiß nicht, ob das gut ist. Das Thema Kindesmissbrauch ist sehr aktuell, in negativer Hinsicht. Wenn da plötzlich jemand behauptet, das Kind hat es genossen. Man wird dir den Kopf abreißen, Lisa.«
Ich erzählte ihm die kleine Story, die ich von Marion gehört hatte.
»Bei der Jugendlichen und der erwachsenen Frau«, erklärte ich,
»muss ich von Genuss sprechen. Meta war ihrem Vater sexuell hörig, anders lässt sich das nicht erklären. Ich wüsste sonst beim besten Willen keinen Grund, warum sie auch als verheiratete Frau noch regelmäßig mit ihm geschlafen haben sollte. Ihren Mann hat sie jedenfalls nie geliebt.«
Ich sprach weiter über die Szene, die ich nun schon so oft geändert hatte, die mir immer noch nicht schlüssig erschien. Der Entschluss zur Ehe.
»Die Schwangerschaft allein war kein Grund. Eine junge Frau mit unehelichem Kind, die im Haus des Vaters wohnt, daran hätte kein Mensch Anstoß genommen. Vielleicht sollte ich die Frage aufwerfen, warum sie überhaupt schwanger wurde. Sie war in einem Alter, in dem jeder Arzt ihr bereitwillig ein Verhütungsmittel verschrieben hätte.«
»Es könnte eine Panne gewesen sein«, meinte Dierk.
»Glaube ich nicht. Es reicht mir auch nicht als Erklärung. Ich denke eher an eine Art Schocktherapie, unbewusst. Auf der einen Seite war es schön mit Papa, auf der anderen Seite war es verboten. Sie ist in einen moralischen Konflikt geraten. In dieser Situation lässt sie sich mit einem jungen Mann ein. Und von dem wird sie schwanger. Es könnte doch genau umgekehrt sein. Das erste Kind ist von Heinz, die beiden anderen sind von ihrem Vater.«
Ich wollte noch mehr sagen. Dierk unterbrach mich, indem er lächelte und gleichzeitig abwinkte.
»Mach es nicht komplizierter als es ist, Lisa. Lass es in der jetzigen Version. Die Älteste vom Vater, die beiden anderen vom Mann.«
Dann wurde es Zeit aufzubrechen. Während der kurzen Fahrt sprachen wir über die Lesung in Köln, die ich bereits als einen vollen Erfolg angesehen hatte. München wurde noch besser, voll besetzt bis auf den letzten Stuhl. Andächtige Stille, nach einer Stunde dann eine heiße Diskussion, die Dierk immer wieder aufs Neue in Gang brachte, wenn sie zu erschöpfen drohte. Alle möglichen Aspekte einer Zweierbeziehung wurden ausgeleuchtet. Und meine Beweggründe, es so und nicht anders niederzuschreiben. Da
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