Bestialisch
Fernsehstationen werden sich wie Aasgeier auf diese Meldung stürzen. Und Sie wissen, was dann passiert, oder?«
Ich gab ihm die Zeitung zurück und nickte.
»Ridgecliff wird untertauchen.«
Waltz schmiss die Zeitung in den Papierkorb. »Glauben Sie, dass diese Geschichte Ridgecliff zu einer Dummheit verleitet? Wird er Folger, falls sie überhaupt noch am Leben ist, deswegen umbringen?«
»Wenn er sie noch nicht getötet hat, gibt es dafür einen Grund. Und daran ändert sich doch nichts, nur weil seine Tarnung aufgeflogen ist.«
Er ging zur Jalousie hinüber, verstellte sie so, dass man uns nicht mehr sehen konnte, und drehte sich dann zu mir um.
»Mir ist schleierhaft, wieso Ridgecliff überhaupt in New York ist. Ich komme mir vor, als säße ich in einem Spiegelkabinett. Haben Sie mir auch wirklich alles erzählt, was es über ihn zu sagen gibt?« Waltz starrte mich an, als müsste er sich meine Reaktion ganz genau einprägen.
»Wieso sollte ich irgendwelche Infos unter Verschluss halten, Shelly?«
»Haben Sie mal mit Ridgecliffs Leuten gesprochen? Mit seinen Verwandten? Mit diesem Bruder, der von der Bildfläche verschwunden ist? Charles heißt er. Mochte oder hasste Jeremy Ridgecliff ihn?«
»Ridgecliff hat steif und fest behauptet, er hätte Charles das Leben gerettet.«
»Mit welcher Begründung?«
Ich runzelte die Stirn, als durchforste ich mein Gedächtnis. »Ridgecliffs Vater drehte immer öfter durch. Schlug häufiger und härter zu. Angefangen hat es, als Jeremy zehn wurde – beinah so, als hätte der Junge damit das Alter erreicht, wo der Alte Herr seine Wut endlich an ihm auslasen konnte.«
»Kapiere ich nicht.«
»Ein paar Tage vor seinem zehnten Geburtstag bekam Charles von einem Freund einen Hamster geschenkt, den der Junge unter dem Bett versteckte. Am Abend des Geburtstages waren Mama und die Kinder wieder total angespannt, weil sie nicht wussten, wie Daddy reagieren würde. Der Kuchen wird aufgeschnitten, Daddy grinst breit, verschwindet kurz und kommt mit dem Hamster in der Hand zurück.«
Waltz schüttelte den Kopf. »Oje!«
»Daddy schreit: ›Ich habe dir gesagt, ich dulde im Haus keine Tiere.‹ Und dann holt er wie ein Werfer aus der Oberliga aus und schmettert den Hamster gegen die Wand. Das kleine Tier landet auf dem Boden, lebt noch, quietscht und zuckt. Aus den Platzwunden strömt Blut. Hamster schreien … das hat Ridgecliff mir erzählt.«
Waltz war so bestürzt, dass er nur den Kopf schütteln konnte.
»Daddy dreht völlig durch«, fuhr ich fort, »und drückt Charles’ Kopf in den Kuchen. Die Mutter verschwindet wie üblich in ihrem Zimmer und näht. Eine Woche später bringt Ridgecliff den Vater um.«
Waltz schaute mir in die Augen. »Warum erzählen Sie mir das erst jetzt?«
»Weil es mir eben wieder eingefallen ist, Shelly. So lautete jedenfalls die Begründung, die Ridgecliff immer wieder für seine Tat gegeben hat: Er musste den Vater töten, um den Bruder zu retten.«
Shelly warf mir ein hintergründiges Lächeln zu.
»Würde zu gern erfahren, wie der Bruder das sieht.«
Ich zuckte mit den Achseln, wirbelte auf dem Absatz herum und spürte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ich überließ Shelly seiner Arbeit und hoffte inständig, dass Jeremy meine Botschaft erhalten hatte.
KAPITEL 27
Am späten Nachmittag füllten sich die Straßen mit Menschen, die von ihrem Arbeitsplatz nach Hause eilten. Auch ich ging schnell und wich den anderen Passanten aus, als sich mein Handy bemerkbar machte. Während ich es aus der Tasche zog, stellte ich mich schnell in den zurückgesetzten Eingang eines Elektronikfachgeschäftes, um nicht niedergetrampelt zu werden. Im Schaufenster hinter mir lagen Kameras, Ferngläser, Taschenlampen, Handys und haufenweise MP3-Player.
»Hallo, Carson. Tom Mason hier.«
»He, Tom, nett von dir, dass du dich meldest. Was gibt’s?«
»Rick Saunders, der oben in Pickens County bei der State Police ist, hat mich angerufen und erzählt, jemand hätte sich nach dem Ridgecliff-Fall erkundigt. Zu dem Zeitpunkt, als Ridgecliff seinen Alten Herrn getötet hat, wohnte die Familie dort oben in einem Bauernhaus.«
Dies Bauernhaus war mal mein Zuhause gewesen. Vor einer halben Ewigkeit. Die Furcht schnürte mir die Kehle zu. Eine Horde orientalischer Touristen näherte sich dem Schaufenster und zeigte auf die glitzernden Auslagen. Ich drehte mich weg und presste das Telefon noch fester ans Ohr, während Tom fortfuhr:
»Der Typ,
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