Bevor der Morgen graut
der Testamentsvollstreckung und dem ganzen Drumherum befassen wird. Er hat mir gesagt, dass Ólafur ihn letzten Dienstag angerufen und ihn um juristischen Beistand in einer Scheidungsklage gebeten hat.«
»Nanu?«, wunderte sich Magnús, »wollte er sich von seiner Frau scheiden lassen?«
»Ja«, antwortete Dóra, »es sieht so aus. Der Rechtsanwalt sagte mir aber, dass sein Tod keinen Unterschied für die Frau macht; die Gütertrennungsvereinbarung, die beide unterzeichnet haben, sah vor, dass die Ehefrau sowohl im Fall einer Scheidung als auch beim Ableben von Ólafur den gleichen Besitzanteil erhalten würde.«
Magnús war sichtlich erleichtert. »Dann besteht also wohl kaum die Gefahr, dass die Ehefrau sich wegen der Scheidung zu einer Verzweiflungstat hat hinreißen lassen.«
Dóra schüttelte den Kopf. »Nein, jedenfalls nicht wegen finanzieller Dinge.«
10:30
B irkir war die Aufgabe zugeteilt worden, der Familie von Friðrik Friðriksson einen Besuch abzustatten, und er machte sich im Anschluss an die Besprechung sofort auf den Weg. Er fand den Namen auf dem Schild neben der Gegensprechanlage in einem Mehrfamilienhaus am Kleppsvegur. Vierter Stock links. Er drückte auf die Klingel, und eine Frauenstimme antwortete schwach: »Hallo, wer ist dort bitte?«
Birkir wurde hereingelassen, nachdem er sich vorgestellt hatte. Das dunkelbraun gestrichene Treppenhaus war sauber, wirkte aber düster. Birkir nahm die Treppe nach oben in raschen Schritten, vielleicht ein wenig zu rasch, denn auf dem Treppenabsatz im dritten Stock stieß er mit einer großen jungen Frau zusammen, die auf dem Weg nach unten war. Sie trug nur eine Jeans und ein Baumwolltop, und Birkir spürte, dass sie keinen BH trug, als er mit dem Gesicht an ihrem Busen landete.
Birkir war es gewohnt, Frauen zu treffen, die größer waren als er, und er machte sich nur selten Gedanken darüber. Er war durchaus ausgesöhnt mit seinen 168 Zentimetern und seinem Körperbau. Aber ein derart intimer Zusammenstoß mit einer Unbekannten von dieser Größe ließen ihn kleiner wirken als er war.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich habe dich nicht bemerkt.«
»Keine Ursache«, sagte sie, »ist ja nichts passiert.« Birkir bemerkte, dass sie eine gute Figur hatte und trotz ihrer 1,90 Meter gut proportioniert war. Sie hatte blonde, kurz geschnittene Haare und war auf eine aparte Weise schön. Im nächsten Moment war sie schon weiter die Treppe hinunter.
Die Frau, die Birkir an der offenen Tür in der vierten Etage in Empfang nahm, presste eine aufgeschlagene Bibel gegen ihre Brust. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Wollpullover, langerRock, Strumpfhosen und Schuhe, alles schwarz. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem vergoldeten Kreuz. Ihr graumeliertes Haar war im Nacken zu einem Knoten geschlungen.
Birkir stellte sich vor, und die Frau bat ihn einzutreten.
»Bist du die Ehefrau des Verstorbenen?«
Die Frau nickte.
»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Birkir.
»Vielen Dank«, flüsterte die Frau.
In der Wohnung war es dunkel, denn an sämtlichen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, nur einige Kerzen brannten. An den Wänden hingen gerahmte Nachdrucke von Gemälden mit biblischen Motiven. Birkir besaß einen Bildband mit bekannten Gemälden älterer Meister, die biblische Szenen illustrierten. Er hatte ihn als Tauf- und Konfirmationsgeschenk bekommen, denn beide Zeremonien wurden bei ihm an ein und demselben Tag durchgeführt, als man davon ausging, dass er vierzehn geworden war. Dieses Buch hatte er später des Öfteren in der Hoffnung durchgeblättert, auf diese Weise die christliche Botschaft besser zu verstehen, aber ohne großen Erfolg. Immerhin erkannte er jetzt aber einige der Nachdrucke, die an den Wänden hingen, die Opferung Isaaks von Caravaggio, die Madonna mit Kind von Raphael und das Abendmahl von Leonardo da Vinci.
Tiefes Schweigen herrschte in der Wohnung, und zunächst glaubte Birkir, dass die Frau alleine war, aber als er ins Wohnzimmer geführt wurde, sah er vier Kinder nebeneinander auf dem Sofa sitzen, drei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen weinte leise vor sich hin, sie war die Älteste und wahrscheinlich im Konfirmationsalter, die Jungen waren circa vier, sieben und zehn Jahre alt. Auch sie hatten verweinte Augen, aber sie gaben keinen Laut von sich.
Ein Mann stand von einem Stuhl auf, ging auf Birkir zu und stellte sich vor.
»Ich bin der Vorsteher der Gemeinde, der diese trauernde Familie angehört. Ich bin
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