Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Leder.
»Patience, dear. Bitte entschuldige mich einen Moment.«
Sie klappte ein silberfarbenes Handy auf, wandte sich ab und telefonierte in gedämpftem Französisch. Linnea beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Kein Zweifel, dies war die Frau von dem Foto, aber wenn seither tatsächlich fünfundzwanzig Jahre vergangen waren, hatte der Zahn der Zeit erstaunlich wenig an Adèle de Clermont-Tonnere genagt. Als Linnea vor den Kartons ihres Vaters gesessen hatte, hatte sie nicht verstanden, wie ihr steifer Vater eine Affäre mit einer jungen linksradikalen Frau hatte haben können. Doch jetzt, wo Linnea sie mit eigenen Augen sah, schien alles einleuchtend. Sie musste nicht in die Vergangenheit zurückblicken, um zu begreifen, dass diese Frau ganz nach dem Geschmack ihres Vaters war. Sie hatte nicht eine Falte in ihrem perfekt geschminkten Gesicht und war auf jene lässige Weise elegant gekleidet, wie es nur Menschen sein konnten, für die Geld keine Rolle spielte. Ihr Haar war kurz und dunkel und so geschnitten, als käme sie gerade von einem sehr teuren Friseur. Adèle verkörperte Selbstbewusstsein, Ehrgeiz und einen großen Lebenshunger. Linnea zupfte an ihrem Patrizia-Pepe-Mantel, zog noch einmal die Nase hoch und fühlte sich ziemlich underdressed. Merkwürdigerweise machte sie der Gedanke, dass diese Dame vielleicht die heimliche Liebe ihres Vaters gewesen war, nervöser als die Tatsache, dass sie eine weltweit gesuchte Waffenhändlerin und möglicherweise sogar Terroristin war.
Die halbe Mailadresse auf der Postkarte aus Paris war Linneas einzige Spur gewesen, und sie hatte darauf gesetzt, dass sie nur deshalb unvollständig war, weil man sich den Rest leicht merken konnte. Deshalb hatte sie gleichlautende Mails an alle Yahoo-, Hotmail- und Gmail-Adressen mit demselben Benutzernamen und verschiedenen Länderdomains geschickt. Der Wortlaut war einfach gewesen: » HP Kirkegaard war mein Vater. Wir müssen uns treffen. Sie bestimmen Zeit und Ort.« Sie hatte nicht ernsthaft mit einer Antwort gerechnet. In erster Linie hatte sie ihren Frust darüber loswerden wollen, dass staatliche Behörden möglicherweise Wissen über ihren Vater unter Verschluss hielten. Außerdem hatte Thor ja selbst erzählt, dass die Frau rund um die Uhr beschattet wurde. Das bedeutete hoffentlich auch, dass irgendjemand vom Französischen Nachrichtendienst in der Nähe war und eingreifen würde, wenn Linnea Gefahr drohte.
Im nächsten Moment bemerkte sie einen dunklen BMW mit getönten Scheiben, der langsam vorbeifuhr. Er hielt ein Stück entfernt an der nächsten Straßenecke. Verwirrt sah Linnea sich um, doch jetzt hatte Adèle ihr Gespräch beendet. Wortlos legte sie erneut ihre Hand auf Linneas Schulter und schob sie energisch zum Auto. Die hintere Tür wurde von innen geöffnet.
»Wohin fahren wir …?«
Linnea wollte protestieren, doch die schlanke Frau schubste sie einfach auf den Rücksitz. Dann wurde die Tür hinter ihr zugeschlagen.
29
T hor bemerkte, dass selbst May Tantawis dunkle Haut jetzt denselben ungesunden, bläulichen Farbton hatte wie die der anderen Kollegen. Ungeachtet von Alter und Geschlecht ließen die Wintermonate ausnahmslos alle müde und alt aussehen. Als er sie auf dem Flur ansprach, nickte sie eifrig.
»Ist dir klar, wie undurchsichtig das alles ist?«
Sie hielt ihm demonstrativ eine Mappe vor die Nase, die von Papieren überquoll.
»Es kann zwar sein, dass Dänemark nicht viele komplette Waffen liefert«, erklärte sie. »Aber wir exportieren sogenannte Teilkomponenten für Waffensysteme, die in anderen Ländern zusammengebaut werden. Im Wert von knapp 1 , 5 Millionen Kronen. Hinzu kommen schätzungsweise zwanzig Millionen Kronen, die gar nicht erst registriert werden, weil es sich um Dual-Use-Produkte handelt, also Technik, die man sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke nutzen kann. Es hat den Anschein, als wäre diese Undurchsichtigkeit eine ganz bewusste Masche. Der Export von Milchprodukten zum Beispiel wird in über tausend unterschiedlichen Kategorien registriert, die für jeden einsehbar sind. Waffen dagegen nur in zwanzig.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Mit anderen Worten, ich allein bin nicht dazu in der Lage, den gesamten dänischen Waffenhandel zu durchforsten, nur weil vielleicht eine Verbindung zu deinem Mordfall besteht. Er ist viel zu umfangreich.«
Dafür wirkte sie allerdings nicht sonderlich entmutigt, und Thor öffnete ihr die Tür zum Konferenzraum, wo die
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