Bezaubernde Spionin
schritt. Sie sah nur ein einziges Gesicht vor sich, in einer fast schon erschreckenden Klarheit. Ein wohlbekanntes Gesicht, mit blauen, leuchtenden Augen, deren Blick sie förmlich zu durchbohren schien, sich in ihre grünen Augen brannte, bis in ihr Innerstes drang, ihr Herz versengte und ihre Knie in Pudding verwandelte. Sie konnte es gerade noch vermeiden, hilfesuchend nach Nanette zu tasten, die nach wie vor einen Schritt hinter ihr ging, eine Unendlichkeit entfernt, wie es Aylinn vorkam.
Aber diese Blöße würde sie sich nicht geben. Nicht vor dem versammelten Hof, nicht bei ihrem ersten Auftritt in der Öffentlichkeit seit fast einem Jahr, und schon gar nicht vor ihm, ihrem ersten und einzigen Geliebten.
Sir Rupert von Atholl, Lordkämmerer Seiner Majestät des schottischen Königs. Mörder ihres Vaters. Mann ihrer Träume.
Aylinn hatte das Gefühl, als wäre das Lächeln auf ihren Lippen eingefroren, als sie weiterschritt, den Kopf neigte, leise murmelnd die Grüße irgendwelcher Adligen und Würdenträger erwiderte und sich dabei Schritt um Schritt dem Podest näherte. Es gelang ihr, nicht mehr zu Sir Rupert hinüberzusehen, aber sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut, als könnte er ihr Gewand aus grünem Samt durchdringen. Ihr brach unter dem Stoff der Schweiß aus, rann über ihre nackte, glühende Haut, und sie biss die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu unterdrücken.
Verdammt! Sie war doch nicht irgendein kleines Mädchen, das einer romantischen Träumerei nachhing und beim ersten auffordernden Blick eines Mannes in Ohnmacht fiel! Sie war Lady Aylinn, Herzogin von Albany, Herrin von Campbell House und den umliegenden Weilern. Und außerdem war sie aus einem ganz bestimmten Grund an den schottischen Hof zurückgekehrt. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
»Lady Aylinn?«
Aylinn wurde von der tiefen, sonoren Stimme aus ihren Gedanken gerissen. Und errötete im selben Moment bis unter die Haarwurzeln.
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie das Thronpodest erreicht hatte. Wie lange hatte sie schon davor gestanden, starr wie eine Salzsäule, anstatt, wie es die Etikette und die Höflichkeit verlangte, dem Königspaar mit einem Hofknicks ihre Ehrerbietung zu erweisen? Sie wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Wie hatte ihr das passieren können? Natürlich war das nur die Schuld dieses … dieses …
»Majestät!«, stieß sie hervor und machte Anstalten, das Versäumte nachzuholen. Im nächsten Moment spürte sie eine kräftige Hand auf ihrem Arm, die sie daran hinderte, in die Knie zu gehen, und hörte erneut die tiefe Stimme, die diesmal eindeutig amüsiert klang.
»Lady Aylinn. Wir freuen Uns sehr, Euch bei Hofe zu sehen, und sind mehr als entzückt, dass Ihr Unserer Einladung gefolgt seid.«
Aylinn blickte verwirrt hoch, in das Gesicht von niemand anderem als König James I. von Schottland. »Majestät sind zu gütig«, hauchte sie.
»Gütig. Tatsächlich, hm? Ich glaube, Ihr seid einer der ganz, ganz wenigen Menschen in Schottland, die Uns für gütig halten, Herzogin«, erwiderte James I. von Schottland spöttisch und leise. »Umso willkommener ist Uns Eure Anwesenheit, Lady Aylinn«, fuhr er dann lauter fort. »Bitte, Herzogin, gesellt Euch zu Uns und der Königin auf das Podest.«
Aylinn vermutete, dass das Funkeln in den hellblauen Augen unter der hohen Stirn, auf der sich tiefe Sorgenfalten eingegraben hatten, Belustigung verriet, war sich jedoch nicht sicher. Denn bis auf diese Augen wirkte die Miene des Königs wie versteinert, und er bewegte kaum die Lippen, als er sprach. Auf seinem kurz geschnittenen Haar saß die Krone Schottlands, ebenso ein Zeichen seiner Würde wie das kurze, mit Hermelin besetzte Cape, dessen purpurrote Farbe dem König vorbehalten war.
Aylinns Wangen glühten, als sie dem König die Stufen auf das Podest folgte und sich von ihm zu einem mit rotem Samt gepolsterten Lehnstuhl führen ließ, der ein Stück neben den beiden Thronen auf einer niedrigen Stufe aufgestellt worden war.
Ihr Blick zuckte zu Joan Beaufort, James’ Gemahlin, die ihr lächelnd zunickte. Aylinn registrierte, dass dieses Lächeln erneut ihre Augen nicht erreichte, wie schon bei ihrem Gespräch kurz vor der öffentlichen Audienz.
Sie schluckte, drehte sich um und nahm Platz, während der König zu seinem Thron zurückkehrte. Ungeachtet des freundlichen Empfangs, den ihr Seine Majestät bereitet hatte, war die Stimmung im Thronsaal eher frostig. Aylinn hatte es in ihrer Aufregung
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