Bilder von dir: Roman (German Edition)
allein mit ihrer Mutter sein, ohne sie fragen zu können, was Bert gemeint hatte, als sie von Geheimnissen sprach – oder schlimmer, sie tatsächlich zu fragen und eine Antwort zu bekommen und diese nicht mehr ungeschehen machen zu können.
Sie und Mona belegten die beiden Schlafzimmer im hinteren Flügel des zweiten Stockwerks des Darby-Jones, wobei beide Räume auf den Hauptflur führten und voneinander durch ein Badezimmer getrennt waren, das Mona das Grüne Zimmer nannte: Es war ein gemeinsamer begehbarer Schrank und Ankleideraum, durch den Mona gehen musste, um Dusche und Waschbecken zu erreichen. Das Zimmer von Oneida war das kleinere von beiden, aber bei Weitem das bessere: Es war ein Eckzimmer und hatte drei Fenster, eins davon mit einer Fensterbank, von der aus man das gesamte Darby-Jones-Anwesen im Blickfeld hatte. Ein riesiger Walnussbaum erhob sich weniger als zwei Meter von den Grundmauern entfernt, und man musste jedes Frühjahr die Zweige zurückschneiden, damit sie nicht in Oneidas Zimmer wuchsen. Sie protestierte jedes Jahr gegen das Zurechtstutzen, weil ihr die Vorstellung gefiel, aus
ihrem Fenster über den Walnussbaum nach unten klettern zu können, eine Fluchtmöglichkeit zur Verfügung zu haben. Im Herbst verfärbte das Laub des Baums sich in ein leuchtendes Orangerot, und die durch die an ihrem Fenster klebenden Blätter fallende Nachmittagssonne erfüllte ihr Zimmer mit rotgoldenem Licht. Wie Buntglas, fand Oneida. Als wäre ihr Raum nicht nur abgeschieden, sondern auch sakral.
Ohne ihre Turnschuhe auszuziehen, warf Oneida sich auf ihr Bett und zog sich die blaue Decke bis ans Kinn. Hausaufgaben. Sie hatte Hausaufgaben zu erledigen, nicht viel, aber hoffentlich doch genug, um sich von dem abzulenken, was beim Abendessen vorgefallen war. Sie streckte einen Fuß unter der Decke hervor und zog damit ihre Schultasche heran, zog sie sich seitlich ans Bett und wühlte blind nach dem zerfledderten Schulexemplar von Der scharlachrote Buchstabe , das Ms. Hefferman am Montag ausgeteilt hatte. Es fiel schon auseinander, die einzelnen Seiten hatten Flecken von Cola oder Kaffee oder Schlimmerem, die Ecken waren umgeknickt und eingerissen. Sie kam bald dahinter, dass dies das genaue Gegenteil einer guten Ablenkung war, denn sie konnte sich Hester und Pearl nicht vorstellen, ohne dabei Monas und ihr eigenes Gesicht zu sehen, ein Kind in Monas Armen, in dem gerahmten Bild, das Mona auf ihrem Nachttisch stehen hatte: ein Hochglanzfoto, gemacht von Oneidas Großmutter, nicht lange, nachdem Mona aus New Jersey zurückgekommen war. Es hätte irgendein Baby sein können: großer Kopf, große dunkle Augen, geschlechtslos und rund. Aber Mona wirkte wie eine Statue – eine griechische Statue, eine edle Erscheinung unter den Falten derselben blauen Decke, unter der Oneida jetzt lag –, so entschlossen und unnachgiebig wie ein Stück Marmor. Mit dem Gesicht einer Jugendlichen, nicht viel älter als Oneida jetzt war, ein Tatbestand, dessen Tragweite Oneida mit jedem Geburtstag besser begriff.
Sie hasste ihr Gehirn. Es biss sich fest – es wühlte auf –, ob sie wollte oder nicht.
Monas Geheimnis war dasselbe wie das von Hester. So musste es sein. Je mehr Oneida darüber nachdachte, umso offenkundiger wurde es. Es war schließlich das zentrale Geheimnis ihrer ganzen Existenz: ein Geheimnis, das man so lange angesprochen und umgangen hatte, dass sie ganz vergessen hatte, hinter dem verschwommenen und beschwichtigenden er war nicht bereit, Vater zu sein – eine Antwort, von der Oneida bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hatte, wie unbefriedigend sie war – nach der tatsächlichen Antwort zu suchen. Mona hatte ihr den Eindruck vermittelt, ihr Vater sei eine unbedeutende Figur, die weder die Zeit noch die Energie verdient hatte, auch nur an ihn zu denken. Oneida warf das Buch beiseite; alles drehte sich ihr im Kopf, als sie sich klarmachte, wie leicht sie es ihrer Mutter bei der Gehirnwäsche gemacht hatte, wie bereitwillig sie sich die Person aus dem Kopf geschlagen hatte, die fünfzig Prozent ihrer DNA beigesteuert hatte. Wie hatte sie dieses Leben so lange leben können, ohne sich Zeit zu nehmen, einen wirklich kritischen Blick darauf zu werfen?
Bert wusste es. Roberta Draper wusste, wer ihr Vater war.
Sie stand auf und lief auf und ab. Die Sonne war untergegangen, und Oneida stellte überrascht fest, wie dunkel es in ihrem Zimmer geworden war. Sie knipste das Licht an, und die fahle künstliche
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