Bilder von dir: Roman (German Edition)
endete im Durcheinander, und ein paar Stimmen füllten die Stille. Die Geräusche kamen von irgendwo rechts unter ihnen, und Wendy, dem die Neugier auffiel, die Oneida kaum verbergen konnte, bedeutete ihr, ihm den Flur entlang zu folgen.
»Hm, ist sonst schon jemand da?«, fragte sie.
»Ne«, antwortete Wendy.
»Oh.« Hätte sie doch nur ihre Uhr umgehabt. Mit einer Uhr hätte Oneida wenigstens eine kleine Kontrollmöglichkeit gehabt, hätte genau gewusst, wie zeitig sie dran war, wie lange sie noch würde warten müssen, bis jemand von den anderen aufkreuzte – und sollte sie in den Eingeweiden des Wendellschen Anwesens verloren gehen, bekäme sie wenigstens mit, wie lange ihre Gefangenschaft dauerte. »Meine Mutter ist immer früh dran, tut mir leid …«
»Du bist spät dran.« Wendy drehte sich bei diesen Worten nicht um. Er setzte seinen Weg durch den düsteren Flur fort, sodass Oneida nicht umhin kam zu bemerken, wie dünn er von hinten aussah. Seine knochigen Ellbogen stachen aus seinen Ärmeln hervor wie Zweige und seine Jeans hing an seinem Hintern wie bei einer Vogelscheuche. Oneida hörte die Stimme ihrer Mutter ganz deutlich: Dieser Junge hat keinen Hintern .
»Ich werde dir was zeigen«, sagte Wendy und kam mit einer abrupten Bewegung zum Stehen. »Aber du musst mir versprechen, dass du darüber niemals mit einem anderen Menschen sprichst, ob lebend oder tot.« Er spuckte in seine Hand. »Darauf musst du einschlagen, und sollte ich jemals Wind bekommen, dass du dieses Versprechen gebrochen hast, werde ich dich umbringen. Ich weiß, dass du mir das abnimmst.«
Die Musik setzte wieder ein, viel lauter, viel näher. Oneidas Herz klopfte so heftig und schnell, dass ihr schwindelig und übel wurde. Der Impuls, zurück durch den Flur zu rennen, nach draußen, zu ihrer Mutter – noch konnte Mona es nicht bis zum Ende der Einfahrt geschafft haben, sie war viel zu lang –, wurde von einer neuen Stimme in ihrem Kopf infrage gestellt, sie war beängstigend und hartnäckig: Deine Mutter würde sagen, du machst dich lächerlich, sie müsse zurück zu Mr. Rook. Deine Mutter würde ohne dich wegfahren .
Wendys schwarze Augen blinzelten. »Mann«, sagte er. »Du lässt dich so leicht aus der Fassung bringen, das macht gar keinen Spaß.« Er trat mit dem Fuß gegen eine Wand, und eine Tür, die in der funzeligen Beleuchtung kaum zu erkennen war, schwang auf.
Oneida hätte nach allem, was sie von Wendy und dem Rahmen der Möglichkeiten in Ruby Falls wusste, auf gar keinen Fall auf das vorbereitet sein können, was hinter dieser Tür lag. Eine Treppe mit wenigen Stufen führte hinab in einen höhlenartigen Raum, der von Licht geflutet wurde, das durch ein riesiges Schaufenster mit Blick auf ein hügeliges, von Bäumen bestandenes Tal fiel, die sich gelb und rot vor dem blauen Herbsthimmel abhoben. Das Haus war tatsächlich in einen Hügel eingelassen. An den weißen Wänden hingen farbenfrohe Gemälde, von denen Oneida einige erschrocken wiedererkannte: ein knalliges Porträt von Marilyn Monroe im Blau von Drosseleiern und Kaugummirosa; ein Mann mit einer Melone auf dem Kopf, das Gesicht im Schatten eines hellgrünen Apfels. Aber in der Mitte des Raums befand sich, umgeben von dick gepolsterten und nicht zueinanderpassenden Sesseln und Sofas, eine Band. Ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen, ein paar Jahre älter als Wendy und sie selbst, hing schief über einer grünen E-Gitarre und ein älterer Mann, pummelig und kahl, spielte eine verstärkte Akustikgitarre, aus deren Bauch sich ein Kabel schlängelte. Am meisten schockierte sie aber die Drummerin: Sie war ebenfalls blond, trug ein hellblaues Tanktop und sah mindestens zehn Jahre älter aus als Mona.
Wendy deutete auf die Drummerin und sagte mit einer Portion Stolz: »Das ist meine Mama.«
Oneida erkannte den Song nicht und verstand vom Text auch nur den Refrain, eine ständige Wiederholung von Here comes your man , aber er gefiel ihr auf Anhieb. Es war ein treibender, federnder Rhythmus und die Gitarren klangen – in Oneidas Ohren, die nie ein anderes Instrument als die idiotische Blockflöte gespielt hatte, die sie in der dritten Klasse drei Wochen lang hatte lernen müssen – klar und fröhlich. Er erfüllte sie mit Hoffnung, als könne der gleichmäßige Beat sie hochheben und zu seinem Ziel tragen. Dabei musste sie an Sekundenzeiger, tropfende Wasserhähne und die dünne rote Linie denken, die den Weg der Reisen von Indiana Jones auf alten
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