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Bilder von dir: Roman (German Edition)

Bilder von dir: Roman (German Edition)

Titel: Bilder von dir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Racculia
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sich von ihr fernzuhalten, wann immer sie einen sprunghaften Eindruck machte. Er verstand nicht, was diese Gefühle auslöste und was dafür sorgte, dass sie derart außer Kontrolle gerieten. Wie es sich jetzt anhörte, gab sie die Schuld daran ihrem Vater, was – war sie verrückt? Allein die Frage, was geschähe, wenn er erwischt wurde, war schon daneben, denn er würde sich nicht erwischen lassen: Er war Astor Wendell. Er war Robin Hood, er war Billy the Kid, er war ein Superheld. Wenn hier jemand im Arsch war, dann war es Patricia, und Eugene war im Moment verängstigt und verwirrt genug, um ihr das zu sagen.
    Patricia hörte sofort zu weinen auf. Ihr Gesicht erstarrte mitten im Heulen, ihr Mund stand noch offen, ihre Augen waren weit aufgerissen und rot und ihre Wangen tränenfeucht. »Was hast du da gesagt, du kleines Arschloch?«
    »Ich sagte, du bist die Einzige hier, die im Arsch ist, Patricia«, sagte Eugene.
    Anschließend konnte Eugene die Ereignisse dieser schwülen Nacht in Brooklyn in dem alten Loft, in dem die Wendells ihre letzten Familienferien verbrachten, nur noch teilweise rekonstruieren. Er erinnerte sich, dass seine Schwester aufgestanden war und ihm ihr Exemplar von Blumen der Nacht an den Kopf geworfen hatte, er diesem Geschoss auswich, sodass es leise klatschend auf den Boden schlug. Er erinnerte sich, dass Patricia ihn am Kragen seines T-Shirts hochgezogen hatte, erinnerte sich, dass sie ihn angeschrien hatte, Wach auf, Wendy, wach auf und werd endlich erwachsen , dann wusste er nur noch, dass sie ihn losließ und er hingefallen war. Alles andere war komplett weg, aber als er im Krankenhaus seine Augen aufschlug, schlängelten sich zehn Stiche durch seine Augenbraue. Er hatte sich seine Stirn an einer Farbdose aufgeschlagen, die von der Renovierung herumstand, ehe er auf dem Betonboden landete. Doch kein Grund zur Sorge, es würde alles wieder heil werden. Aber Eugene Wendell kam aus diesen Ferien nicht mehr heil nach Hause. Der Wendybazillus hatte sich bei ihm eingenistet, und im Lauf der nächsten fünf Jahre erwachte Wendy und wurde groß.
    Seine Willenskraft reichte nicht aus zu vergessen, was Patricia von ihrem Vater hielt, obwohl er alles dransetzte – und auch einen kleinen Erfolg damit hatte, der ein ganzes Jahr anhielt. Die Überlegung, dass entweder seine verehrte Schwester oder sein verehrter Vater falschliegen sollten, verwirrte ihn und löste Panik in ihm aus – würde sich Ersteres als wahr erweisen, verlöre er eine Schwester. Sollte es Letzteres sein, dann verlöre er nicht nur seinen Vater, dieser wäre zudem auch noch ein Krimineller. In Patricias Augen war Astor nicht besser als ein Dieb, der nur ein paar gelungene Einbrüche davon entfernt war, erwischt zu werden und somit das einzige Leben zu vernichten, das Eugene je gekannt hatte, zusammen mit der einzigen Familie, der anzugehören sich lohnte.
    Aber war dem überhaupt noch so? Seine Schwester machte es ihm mit jedem Tag leichter, sie nicht zu mögen. Seine Mutter und sein Vater hatten seit Brooklyn nicht mehr miteinander gestritten, aber Eugene konnte die Spannungen zwischen ihnen spüren. Selbst Astor verhielt sich anders, hatte aufgehört, mit seinem Sohn in den Ring zu steigen und sich zu raufen, erkundigte sich stattdessen, sobald Eugene auch nur seufzte, ob alles in Ordnung sei. Zum ersten Mal in seinem Leben verbrachte Eugene viele Stunden allein in seinem Zimmer, hörte Musik und versuchte sich davon zu überzeugen, dass es gar nicht nötig war zu entscheiden, ob seine Schwester oder sein Vater verrückt waren.
    Er stand gefährlich kurz davor, sich auf die Seite seiner Schwester zu schlagen, doch dann kam Astor dazwischen und wusste das Zünglein an der Waage, dauerhaft, zu seinen Gunsten ausschlagen zu lassen. In den drei Tagen, die seit seinem elften Geburtstag vergangen waren, hatte Eugene Patricias Geschenk, ein Album namens Doolittle , unentwegt abgespielt und war nach und nach zu der Überzeugung gelangt, dass seine Schwester es verdient hatte, den ersten Platz in seinem Herzen einzunehmen. Vom ersten Song war er geradezu besessen, obwohl er so gut wie nichts von dessen Text verstand: Es wurde viel geschrien, und dann ging es ums Aufschlitzen und um Augäpfel. Aber dass dieser Song auf beängstigende Weise beeindruckend war, ließ sich unmöglich leugnen, und er drehte seine Stereoanlage auf volle Lautstärke, stellte auf Wiederholung und schlug in seinem Schlafzimmer wie ein Verrückter um

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