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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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weit: alles klar.
    Für den Fall, dass die Drogensüchtigen aus der Nachbarschaft Probleme machen sollten, brachte Lena ihre Ist-mir-wurscht-Wassylyna mit. Die Probleme stellten sich aber anders dar als erwartet. Die Untergrundkämpfer fanden kein einziges Straßenschild, das man übermalen konnte. Jeder in der Stadt wusste, dass die Straße »Bauarbeiterstraße« hieß, es gab jedoch keine Schilder, die das ausgewiesen hätten.
    Die jungen Nationalisten drehten enttäuscht noch ein paar Runden und waren schon bereit, die Angelegenheit fallen zu lassen, da schlug Lena vor:
    »Wir brauchen überhaupt keine Schilder, wozu denn! Schreiben wir den neuen Namen doch auf die Häuser und fertig! Es ist sogar besser, dass keine Schilder da sind, nicht wahr?«
    Die »Nicht wahr?«-Methode funktionierte prächtig, alle waren mit Lenas Anregung einverstanden, auch Wassylyna, die der Bewegung formal nicht angehörte. Der Vorsitzende war der Aktion übrigens aus gesundheitlichen Gründen ferngeblieben.
    Alle machten sich daran, den neuen Straßennamen mit schwarzer Farbe auf die Häuser zu pinseln. Das war anstrengend. Lena konnte in den darauffolgenden Tagen ihre Arme kaum spüren, geschweige denn hochheben, so kaputt war sie. Die Aktion wurde bei Sonnenaufgang beendet und alle gingen glücklich und zufrieden nach Hause, um sich auszuschlafen. Drogensüchtige hatten sie nicht angetroffen.
    Die Anwohner freuten sich weniger über die Meisterwerke. Warum auch immer. Die beteiligten »Künstler« waren allesamt keine talentierten Maler, die Schriftzüge waren schief und sahen absolut hässlich aus. Häufig hatten sich Schreibfehler eingeschlichen, vermutlich aus Müdigkeit.
    Innerhalb einer Woche übertünchten die Bewohner der Straße die Aufschriften. Die Farbe bezahlten sie aus eigener Tasche.
    Die jungen Nationalisten planten daraufhin, die Aktion zu wiederholen, weil es wirklich schade um die Idee war. Sie befanden: Jetzt erst recht! Sie übermalen, wir kommen wieder! Sie übermalen, und wir kommen wieder! So lange, bis sie es leid sind, ständig neue Farbe zu kaufen. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, das Nationalbewusstsein in den Köpfen der Leute wiederaufleben zu lassen, man muss schon viel Arbeit hineinstecken. Aber dann bot sich eine ganz andere Möglichkeit zur Bewusstseinsbildung, und die war um einiges wichtiger als die Richtigstellung eines Straßennamens.
    Bei einer außerordentlichen Versammlung warf Darwin die Frage auf:
    »Meine Herrschaften, kennt ihr die Buchhandlung in der Innenstadt?«
    Natürlich kannten alle diese Buchhandlung, es war immerhin die einzige in der ganzen Stadt.
    Darwin fuhr fort:
    »Ich bin dort unlängst vorbeigegangen, und wisst ihr, was ich gesehen habe? Lauter russische Bücher. Auf Ukrainisch gab es nur zwei oder drei. Na gut, vielleicht auch fünf. Eine Schande von einer Buchhandlung ist das. Die reinste russische Propaganda. Wie kann von Nationalstolz die Rede sein, wenn Kinder ihre ersten Bücher auf Russisch lesen?!«
    Das Wort »Kinder« wirkte wie Dynamit. Die Runde wurde lauter.
    »Wenn man effektive Überzeugungsarbeit leisten will«, schrieb Lena später, »braucht man nur das Wort ›Kinder‹ in den Mund zu nehmen, und schon wird eine Buchhandlung dem Erdboden gleichgemacht. Kein Stein bleibt auf dem anderen.«
    Darwin triumphierte:
    »Das ist noch nicht alles! Ich wollte mir ein Buch zu einem nationalen Thema kaufen und habe keines gefunden, ist ja klar. Dafür hatten sie diesen ekelerregenden Wälzer von irgendeinem Kiewer Wissenschaftler, in welchem der große ukrainische Dichter Taras Schewtschenko als Alkoholiker verunglimpft wird. Derartiges darf man nicht einfach so hinnehmen. Da werden nationale Heiligtümer verhöhnt!«
    »Hurra!«, freute sich Lena, »wir fahren nach Kiew und reden mit dem Wissenschaftler! Ich werde Wassylyna mitnehmen. Wenn die mit ihm gesprochen hat, wird der Wissenschaftler bis an sein Lebensende Sternchen sehen …«
    »Wozu brauchen wir den Wissenschaftler?!«, widersprach Darwin, »soll der doch schreiben, was er will. Wir zünden die Buchhandlung an, die diesen Schund verkauft!«
    Gut, dann eben die Buchhandlung.
    Lena fühlte sich ein wenig unwohl bei dem Gedanken, Bücher zu verbrennen. Das ist unmoralisch, egal in welcher Sprache sie geschrieben sind. Aber für einen Rückzieher war es schon zu spät. Manchmal muss man eben kleinere Überzeugungen für größere opfern.
    Irgendjemand bastelte aus einer Flasche einen Molotow-Cocktail.

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