Birne sucht Helene
sich nicht mit einer Begrüßung auf.
»Bienchen ist einfach umgekippt. Tot. Die haben sie gerade abgeholt.«
Ein Bild des Mutterschafs blitzte vor Pauls Augen auf, wie es auf der Wiese lag und sich der Bauch nicht mehr atmend senkte und hob. Sein Mund wurde mit einem Mal staubtrocken.
»Weidest du noch im Stadtwald?«
»Mhm.«
»Bin gleich da.«
Paul stellte den Herd ab und schrieb einen Zettel für Tine. Dann musste sie sich eben eine Tiefkühlpizza aufbacken – obwohl die ihr immer zu viel Fett hatte. Würde sie morgen halt eine Extra-Runde Nordic Walking einlegen müssen. Bevor er losfuhr, rannte er schnell zum Computer und druckte noch etwas aus. Auf dem Weg zu Rainer legte er dann einen Zwischenstopp bei Foto Gregor ein und einen weiteren bei Ömer, wo er eine Flasche Wacholderschnaps kaufte. Den schätzte Rainer sehr, weil er von innen wärmte wie ein kleiner Bollerofen.
Er fand den Schäfer auf dem Boden sitzend. Das war ungefähr so, als reise man nach New York und sähe die Freiheitsstatue in Yoga-Position. Paul reichte ihm die Flasche.
»Auf Bienchen.«
Rainer gab einen tiefen Grunzer von sich und nahm einen Schluck. Seine beiden Border Collies flitzten derweil um die Herde.Sie brauchten nicht einmal zu bellen, allein ihre Nähe trieb die Tiere zusammen.
»Sie war ja bloß ein Schaf«, sagte Rainer und setzte die Flasche nochmals an. »Eins wie alle anderen.«
Paul präsentierte ihm sein zweites Mitbringsel. Es war eines der Fotos, die er von Bienchen geschossen hatte, eingerahmt in Schwarz. Die Abendsonne schien warm auf sie, und das alte Mutterschaf blickte einen sanft mit ihren weisen Augen an. Mit diesem Bild als Wahlplakat hätte sie jede Bundespräsidentenwahl gewonnen. Paul stellte es vor Rainer auf den Boden. Der sagte nichts, sah es nur lange an und schniefte dann in ein Taschentuch. So kräftig, dass Paul sich nicht sicher war, ob noch etwas in seinem Kopf übrig blieb.
»Willst noch was üben? Die besondere Formation? Mach ruhig.«
Paul musste nicht mehr üben, dafür gab es jetzt keinen Grund mehr. Doch er wusste, dass es Rainer immer eine Freude machte, seine Herde so zu sehen. Und das wiederum freute Paul.
Er stieß einen hohen, tirilierenden Pfiff aus, und die Schafe setzten sich in Bewegung.
Doch diesmal machte ihn das makellose Ergebnis nur traurig.
Drei Tage später stand Paul abends vor der mit einer langgezogenen Zulu-Maske verzierten Tür eines südafrikanischen Restaurants und zögerte. Er wollte lieber zu einer Wurzelbehandlung beim irren Zahnarzt von Königswusterhausen gehen als da rein. Und das lag nicht am Essen, ganz im Gegenteil. Die Speisekarte hatte Paul so eingehend studiert, dass er sie mittlerweile auswendig singen konnte, falls gewünscht auch zweistimmig. Sie klang ebenso exotisch wie lecker. Gerne wollte er ausgebackene Süßkartoffel-Käse-Bälle im Sesammantel probieren, noch lieber das Straußenfilet auf Feigen-Rooibostee-Sauce. Es war seine Verabredung,die ihm diese wahnsinnigen Bauchschmerzen bereitete. Dabei hatte Paul das Treffen selbst ausgemacht. Und sein Essenspartner saß sogar schon in dem edlen Lokal. Es war Dave. Sein alter Bandenbruder und jetzt Exkumpel.
Paul ging hinein. Die Wände des Restaurants waren mit Teppichen in erdfarbenen Tönen bedeckt und das Licht so weit herab gedimmt, dass man sich wie in einer Höhle vorkam – die Gäste konnten ihr Essen kaum erkennen. Das mit dem schwarzen Kontinent nahm man hier wohl sehr ernst. Sie saßen auf Bambussesseln an groben Holztischen. So speiste man also in Afrika.
Bevor Paul zu Dave gelangte, lief er gegen eine Wand. Im übertragenen Sinne, aber es fühlte sich genauso an. In einer der Sitzecken lümmelte sich Andy.
Mit einem Buch.
»Entschuldigen Sie? Sind Sie Andreas Päffgen? Falls ja, kennen wir uns aus der Schulzeit. Birnbaum mein Name, Paolo Birnbaum, hocherfreut.« Er streckte ihm die Hand entgegen und machte einen Diener.
»Oh, hallo, Paul. Was machst du denn hier?« So wie Andy es sagte, klang es wie: Scherst du dich jetzt schnellstmöglichst raus – bitte!
»Ich esse hier. Mit Dave. Ich darf das. Aber seit wann futterst du was anderes als Fast Food? Und«, er riss ihm das Buch aus der Hand, »seit wann liest du Der Tod in Venedig von Thomas Mann?«
»Ist ’ne Novelle, gar nicht so lang.«
»Seit wann kennst du das Wort Novelle? Andy, wer hat dir das angetan? Da steckt ein Intellektueller in deinem Körper! Wie kommt der da rein? Hat die Regierung dich für
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