Bis die Daemmerung uns scheidet
leichte Falte gebildet – eigentlich nur der Hauch einer Falte. Als sich Myrnin und Claire, die endlich wieder zu atmen wagte, auf den Weg zur Tür machten, sagte Amelie: »Du hast recht. Die Flucht meines Vaters hat mich … erschüttert.«
»Ach ja?«, sagte Myrnin. »Mein Rat steht fest. Bestrafe ihn nicht. Statuiere kein Exempel an ihm. Wenn du ihn findest, dann töte ihn schnell und leise. Das ist die einzige Möglichkeit, wie du auf Frieden hoffen kannst. Du kannst es dir nicht leisten zuzulassen, dass er in dieser Stadt wieder an Macht gewinnt. Jemand arbeitet mit ihm zusammen, jemand hilft ihm, sonst hättest du ihn längst geschnappt. Sonst würde er es nicht wagen, da draußen herumzulaufen und zu jagen. Das kann schon bald sehr schlecht ausgehen. Tu etwas.«
Sie nickte kaum wahrnehmbar, doch noch immer stirnrunzelnd.
Myrnin packte Claire am Arm und zog sie schnell nach draußen, die Stufen hinunter in die Dunkelheit. Dieses Mal bestellte er einen von Amelies gepanzerten Wagen.
Dass Myrnin tatsächlich solche Vorsichtsmaßnahmen traf, das sagte mehr über die Gefahr aus als alles andere.
6
D ie Leiter stand noch da, als sie nach Hause kam. Myrnin begleitete sie bis zum Fuß der Leiter. Aber als sie gerade drei Sprossen erklommen hatte und sich umsah, war er schon verschwunden. Klar. Ganz vorsichtig zog sie sich die restlichen Sprossen hinauf, wobei sie versuchte zu ignorieren, wie die Leiter unter ihr jedes Mal bebte und schwankte, wenn sie ihr Gewicht verlagerte.
Ihre Erleichterung war bodenlos, als sie das offene Fenster erreichte. Sie kletterte hinein und landete mit einem ungelenken Plumps auf dem Fußboden. Noch war es draußen dunkel, aber nicht mehr lange, höchstens noch anderthalb Stunden, wie sie mit einem Blick auf die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch feststellte.
Gott, war das alles schrecklich. Gerade als sie geglaubt hatte, dass sich in Morganville alles stabilisieren würde, wenigstens ein klein wenig … trieb Bishop erneut sein Unwesen. Er war schon einmal kurz davor gewesen, alles zu zerstören, und betrachtete Amelie und alle anderen in der Stadt als sein rechtmäßiges Eigentum. Als sein Spielzeug.
Was er dieses Mal tun würde, jetzt, da er richtig zornig war … Claire gehörte zwar nicht zu denjenigen, die forderten, dass jemand getötet wird, aber bei Bishop würde sie eine Ausnahme machen. Myrnin hatte recht. Er musste schnell beseitigt werden.
Warum war er überhaupt immer noch hier? Warum war er nicht bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm geboten hatte, aus Morganville verschwunden?
Rache. Er war der Typ, der dafür lebte. Und was hatte Bishop laut Jason noch mal zu Stinke-Doug gesagt? Du dachtest wohl, du könntest mir drohen?
Wie konnte ein einfacher Mensch auch nur daran denken, Bishop drohen zu können.
Doug hatte etwas gehabt. Das Blut – klar, das war schlimm genug –, aber da war auch noch etwas anderes gewesen. Papiere. Bishop hatte sie an sich genommen.
Doug hatte Bishop erpresst. Und damit nicht nur Bishop, denn der konnte draußen nicht allein überleben. Er wäre längst geschnappt worden.
Claire ließ sich aufs Bett sinken, stützte einen Moment lang den Kopf auf die Hände und fing dann an, ihre Schnürsenkel zu lösen.
Da hörte sie etwas.
Stimmen. Leise Stimmen im Flur. Wahrscheinlich Michael, der sich mit Shane oder Eve unterhielt … aber irgendwie hörte es sich nicht richtig an.
Sie zog ihre Schuhe aus und ging auf Strümpfen zur Tür. Sie war nicht abgeschlossen; sie schloss fast nie ab. Der Türknauf in ihrer Hand fühlte sich kalt an, ließ sich aber leicht drehen. Sie zog daran, bis ein schmaler Streifen Licht vom Flur hereinfiel und sie hinausspähen konnte …
Nichts. Keine Menschenseele war im Flur. Sie machte die Tür weiter auf, ganz langsam, und schlich sich hinaus. Das ist doch bescheuert. Dies ist mein Zuhause. Eigentlich sollte es möglich sein, dass ich einfach durch den Flur gehe …
Außer wenn es sich nicht wie ihr Zuhause anfühlte. Sie merkte, dass es das Haus selbst war. Das Glass House war schon immer ein wenig lebendig gewesen und im Moment fühlte es sich an, als … als wäre es unruhig. Besorgt vielleicht. Und das veranlasste Claire dazu, sich leise und vorsichtig zu bewegen.
Die Stimmen klangen gedämpft. Sie kamen vom anderen Ende des Flurs.
Aus Shanes Zimmer.
Vielleicht sieht er fern. Aber normalerweise tat er das nicht. Vielleicht hatte er den Fernseher eingeschaltet und war dann eingeschlafen, aber …
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