Bis ich dich finde
Adkins. (Jack wußte, daß Noah seine Schwester liebte
und Mrs. Adkins besonders gern gehabt hatte.)
[400] Das war ein Fehler. Jack hatte nicht bedacht, daß Noah einfach
die Wahrheit sagte, ohne auch nur ein bißchen selektiv zu sein. Noah erzählte
seiner Schwester, Jack habe ein ungewöhnliches Faible für ältere Frauen. Er
erzählte ihr von der Tellerwäscherin und auch von Mrs. Machado.
In Exeter, wo sich die anderen Schüler auf sehr hohem
intellektuellen Niveau alle möglichen wichtigen Informationen aneigneten,
lernte Jack hauptsächlich eines: wie man durch selektiven Umgang mit der
Wahrheit (was natürlich auf Lügen hinausläuft) zuverlässig eine Freundschaft
beendet. Von Leah, nicht von Jack, erfuhr Noah, daß sie von Jack schwanger
gewesen war; sie erzählte ihrem Bruder auch von der Abtreibung. Als Leah
Radcliffe abermals – und diesmal für immer – den Rücken kehrte, wußte Jack, daß
er es voll und ganz verdient hatte, Noah Rosen als Freund zu verlieren.
Jack hatte, wie ihm schien, ein ganzes Leben als Kind verbracht,
doch seine Jugend rauschte so schnell und verschwommen an ihm vorbei wie jene
Verkehrsschilder, die er aus dem Fenster des Mannschaftsbusses gesehen hatte.
Von Frauen und dem korrekten Umgang mit ihnen wußte Jack ebensoviel wie
Lambrecht von Frostschäden. Er wußte auch nicht, daß Mrs. Adkins und Mrs.
Stackpole und auch Leah Rosen sich von Kummer und Langeweile dazu hatten
verleiten lassen, mit ihm zu schlafen, obwohl sie wußten, daß er bloß ein
geiles Bürschchen war.
Als Jack im Frühjahr 1983 den Schulabschluß machte, weigerte Noah
sich, ihm die Hand zu geben. Noch jahrelang konnte Jack den Gedanken an Noah
nicht ertragen. Jack hatte Noah aus seinem Leben entfernt, und zwar in einer
Zeit, in der dieser ihm als einziger menschliche Wärme gab.
Noahs Eltern waren Akademiker, die über frühkindliche Erziehung
forschten. Aus ihrem Erscheinungsbild und dem des Haushaltes in Cambridge –
ganz zu schweigen von der Tatsache, [401] daß Noah in Exeter und Leah in Andover
und Radcliffe Stipendiaten waren – schloß Jack, daß mit der Erforschung
frühkindlicher Erziehung nicht viel Geld zu verdienen war. (Ein Jammer, denn in
Jacks Fall war sie überaus prägend gewesen.)
Die Rosens hielten große Stücke auf eine gute Ausbildung und waren
sicher am Boden zerstört, als Leah Radcliffe verließ. Sie ging nach Madison,
Wisconsin, und geriet dort in irgendwelche Schwierigkeiten. Es hatte nichts mit
Drogen zu tun, es war eher politisch – falsche Freunde, wie Noah andeutete.
»Sie hatte einen fiesen Freund nach dem anderen«, sagte er zu Jack. »Du warst
der erste.«
Leah Rosen starb in Chile. Mehr konnte Jack nicht in Erfahrung
bringen. Immerhin war kein Wasser im Spiel – nicht der absurde Nezinscot, der
lächerliche Fluß, in dem Mrs. Adkins ihr Leben beendet hatte.
Jack hatte nicht gewollt, daß diesen Frauen etwas zustieß. Das galt
auch für Mrs. Stackpole, deren Leichnam man im Exeter fand, unterhalb des
Wasserfalls. Oberhalb davon war der Fluß seicht und führte Süßwasser, doch
unterhalb des Wasserfalls war das Wasser brackig – die Flut drückte Salzwasser
vom Meer herein –, und dort fand man Mrs. Stackpole bei Ebbe am schlammigen
Ufer. Das Wasser war so stark gefallen, daß ein Golfspieler sie entdeckte –
oder vielleicht war es auch ein Junge aus der Rudermannschaft. Jack war durch
seine bevorstehende Abschlußprüfung in Anspruch genommen und konnte sich nicht
genau erinnern. Jedenfalls hatte die Leiche der ehemaligen Tellerwäscherin so
lange im Wasser gelegen, daß Mrs. Stackpole nicht mehr zu erkennen war.
Sie sei nicht ertrunken, sondern erwürgt und anschließend in den
Fluß geworfen worden, schrieb die örtliche Zeitung. Hatte Mrs. Stackpole ihrem
Mann von Jack erzählt? Hatte er irgendwie herausgefunden, daß sie eine Affäre
hatte? Hatte sie ihn nicht nur mit Jack, sondern mit noch einem anderen Mann
betrogen? Wie [402] so oft in New Hampshire verdächtigte jeder den Ehemann, der im
Gaswerk arbeitete und zum Mittagessen nach Hause kam, doch er wurde nie
angeklagt.
Auch Jack klagte niemand an – niemand außer Noah Rosen, und selbst
der warf ihm nicht vor, ein Mörder zu sein. »Sagen wir: Du hast dein Teil dazu
beigetragen«, sagte Noah.
Er hätte bestimmt Schlimmeres zu sagen gehabt, wenn Leah in Chile
gestorben wäre, bevor man Mrs. Stackpole im Exeter fand. Aber Leah war noch in
Madison, Wisconsin, allerdings zweifellos bereits in
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