Bis ich dich finde
seine
»widerstrebende Braut«. Doch das eigentliche Thema ihres Briefes waren weder
Claudia noch Jacks Weigerung, Kinder zu haben. Mrs. McQuat schrieb ihm, um ihn
daran zu erinnern, daß er mehr Anteil am Leben seiner Mutter nehmen solle, die
er, dessen sei sie sicher, vernachlässige.
»Kümmere dich mehr um sie, Jack«, schrieb die Frau in Grau.
Nun, hatte sie ihm das nicht schon einmal gesagt? Jack warf den
Brief unbeantwortet weg. Später, als er erfuhr, daß sie gestorben sei, fragte
er sich, ob er das vielleicht geahnt hatte. Nicht nur, daß er sich nicht mehr um seine Mutter kümmerte – es war auch, als
hätte er, als er den Brief unbeantwortet ließ, gespürt, daß Mrs. McQuat bereits
auf den Tod zuging, daß sie gewissermaßen bereits im Sterben lag und daß, wenn
sie erst gestorben war, auch die Stimme seines Gewissens verstummen würde.
Sie waren noch ein paar Kilometer von Durham entfernt, nicht weit
von Claudias Wohnung in Newmarket, als sie das Schweigen brach. »Verdammt,
Jack«, sagte sie, »wenn ich mal tot bin, [480] werde ich dich heimsuchen, das
verspreche ich dir. Vielleicht schon, bevor ich tot bin.«
Jack Burns war Schauspieler und hätte wissen sollen, was ein starker
Abgang ist. Er hätte Claudias Warnung nicht vergessen sollen.
[481] 20
Zwei Kanadier in der Stadt der Engel
Trotz
ihrer wachsenden Entfremdung lebten Jack und Claudia während ihrer beiden
letzten Studienjahre an der University of New Hampshire weiter zusammen. Was
sie dazu bewog, war nicht nur die Trägheit, sondern auch dies: Sie waren
Schauspieler in Ausbildung, sie lernten die Kunst des Verbergens. Dadurch, daß
sie etwas von sich selbst nicht preisgaben, brachten sie einander etwas bei.
Sie wurden aufmerksame, aber grämliche Wärter ihrer geheimsten Geheimnisse,
ihres innersten Wesens.
Im Sommer nach ihrem Aufenthalt in Toronto spielten sie wieder in
einem Sommertheater, diesmal in Cape Cod. Der künstlerische Leiter war ein
Schwuler, den Jack sehr mochte. Bruno Litkins war ein großer, eleganter Mann,
der die Bühne stets schwungvoll betrat. Er gestikulierte mit seinen langen
Armen und wirkte wie ein Kranich, der sich redlich, aber vergeblich mühte,
kleineren Vögeln das Fliegen beizubringen.
Für Bruno Litkins war ein Musical, das auf einem Theaterstück oder
Roman basierte, etwas Veränderliches – etwas, das man bei jeder neuen
Produktion auf schockierende Weise neu erfinden konnte. Das Ausgangswerk mochte
ihm heilig sein, doch sobald jemand ein Musical daraus gemacht hatte, kannte er
in Hinblick auf weitere Veränderungen an der Geschichte oder ihren
Protagonisten keine Grenzen.
Beim Vorsprechen für Der Glöckner von Notre Dame – wo Claudia so gern die Rolle der schönen Zigeunerin Esmeralda spielen wollte
– erklärte Bruno Litkins, seine Esmeralda sei ein
schöner Transvestit, der entschlossen sei, die unterdrückte [482] Homosexualität
zu befreien, die wie ein Flämmchen im Herzen von Hauptmann Phoebus flackere und
zu ersticken drohe. Esmeralda, die Zigeuner-Transe von Paris, werde den
verkappten Schwulen Phoebus zu einem Coming-out verhelfen. Sie sei der
Sauerstoff, den Hauptmann Phoebus brauche, um sein homosexuelles Ich zum Leben
zu erwecken.
Der böse Probst Frollo, der anfangs glaube, Esmeralda zu lieben,
wolle Esmeralda dem Tod überantworten, weil sie nicht nur seine Liebe nicht
erwidere, sondern obendrein auch in Wirklichkeit ein Mann sei. (Probst Frollo
sei ein französischer Homophober.) Und Quasimodo, der Esmeralda ebenfalls
liebe, sei am Ende erleichtert zu sehen, daß Esmeralda ihr Herz dem Hauptmann
Phoebus schenke.
»So ist es eine bessere Geschichte«, erklärte Bruno Litkins dem
geschockten Ensemble, »denn Quasimodo ist nicht traurig, daß er Esmeralda an
den Hauptmann verliert.« (Quasimodo hatte zwar einen Buckel, war aber sonst
ganz normal.)
»Was würde Victor Hugo dazu sagen?« fragte Claudia. Die Arme sah
ihre ersehnte Rolle entschwinden; Jack war die Idealbesetzung für eine Transvestiten-Esmeralda.
»Das Publikum soll im dunkeln tappen«, sagte Bruno Litkins und
schwenkte die langen Arme. »Ist Esmeralda eine Frau? Ist sie ein Mann? Sie
sollen raten müssen.«
Es kam natürlich eine zweite schöne Zigeunerin in diesem Stück vor:
Quasimodos ermordete Mutter, die einen kurzen, aber bewegenden Auftritt hatte.
Und es gab in diesem Sommer noch andere Aufführungen in Cape Cod (und nicht
alle waren Musicals, die einen bekannten Stoff neu und schwul
Weitere Kostenlose Bücher