Bis zum bitteren Ende
Verhalten hatte sich geändert, und das war nicht nur auf Lethes Einfluß zurückzuführen. Dafür war es zu schnell passiert - seit dem Kampf zwischen Ryan und Burnout im Arboretum. An diesem Tag war Burnout fast gestorben und hätte Lethe beinahe mitgenommen.
Jetzt versenkte Burnout seine Fingernägel in die Türen und zog sie zu, zuerst die eine, dann die andere. Der Schacht wurde in völlige Finsternis gehüllt. Ein paar Sekunden später spürte Ryan sein Gewicht an der Kante.
»Wir sind bereit, Jane«, hauchte Ryan in sein Mikrofon.
Mit einem Ruck setzte sich der Fahrstuhl nach oben in Bewegung und stieg in die Dunkelheit empor. »Ihr fahrt fünf Etagen nach oben«, sagte sie. »In den dritten Stock. Der Haupteingang befindet sich im zweiten Stock. Ihr müßt herunterklettern und die Türen gewaltsam öffnen.«
Grind meldete sich zu Wort. »Gute Idee, Jane. Selbst wenn sie uns in dem Fahrstuhl vermuten, werden sie ihre Leute in den dritten Stock schicken.«
»Vielleicht«, meinte Axler mit einem zweifelnden Unterton. »Aber ich komme mir trotzdem wie eine Tontaube vor.«
»Hört mit dem Gequatsche auf«, sagte Ryan. »Wir gehen alle gemeinsam raus. Talon, beherrschst du den Levitationszauber? «
»Ja.«
»Wie viele von uns kannst du halten?«
»Zwei, vielleicht drei.«
»Dann tu es«, sagte Ryan. »Levitiere dich selbst, Axler und Grind. Schwebe mit ihnen zu den Türen, während Burnout und ich sie öffnen. Wir können es uns nicht leisten, einer nach dem anderen auszusteigen, falls sie uns bereits erwarten.«
»Verstanden.«
Der Fahrstuhl bremste und kam zum Stillstand. Bei äußerster Beanspruchung seiner Lichtverstärkerfähigkeit konnte Ryan die Zahl 2 über den Türen unter ihnen erkennen.
»Burnout, nimmst du die Stange oder die Leiter?« fragte er.
»Nenn mich Billy«, erwiderte er. »Ich nehme die Stange.«
»Billy?«
»Der Mann, der einmal Burnout genannt wurde, existiert nicht mehr.«
»Also gut«, sagte Ryan. »Dann nehme ich die Leiter. Bereit, Talon?«
»Wenn du es bist.«
»Los.« Ryan schwang sich zur Leiter und stieg rasch zu den Türen hinab. Zwischen den Türen und dem Schacht befand sich ein fünf Zentimeter breiter Sims, und Ryan balancierte mit den Zehenspitzen darauf. Hinter ihm glitt Billy die Stange hinab und bremste auf gleicher Höhe mit Ryan ab. Talon levitierte sich selbst, Axler und Grind, bis sie in Stellung waren, und hielt sie dann auf einer Ebene mit den Türen.
Alle waren bereit.
Ryan klemmte die Finger in die Spalte zwischen den Metalltüren und zog. Die Türen glitten zurück, und blendendes Licht fiel in den Schacht.
Ein erschrockener Wachposten in einem kleinen Alkoven fuhr zu ihnen herum - eine Frau, die rotblonden Haare straff zurückgekämmt und in den Kragen ihrer Uniform der Leopardengarde gestopft. Sie riß eine AK-98 hoch, und als sie sich ihnen zuwandte, glitzerten ihre Cyberaugen, da sie sich weiteten.
Hinter der Wache war ein Bogengang, der in einen großen Zentralraum führte. In dem Sekundenbruchteil, bevor er die Wache angriff, registrierte Ryan die Einzelheiten dieses Raums. Er hatte eine hohe Decke und wurde von der gigantischen Skulptur eines Drachen mit Federn anstelle von Schuppen beherrscht. Es war eine gefiederte Schlange mit violetten und dunkelgrünen Federn.
Quetzalcóatl.
Wände und Decke waren ein Mosaik aus Fliesen, auf denen die geheiligten Rituale der alten Azteken in prächtigen Rot-, Blau- und Goldtönen dargestellt wurden. Der Haupteingang war ein großer Torbogen am anderen Ende des Saals, hinter der Skulptur. Neben dem Torbogen befand sich ein Kontrollpunkt mit Waffen und Cyberware-Scannern und einigen Angehörigen der Leopardengarde.
Der ganze Saal war voller Leute - Akoluthen, Priester, Wachen und Militär. Zwischen ihnen und dem Haupteingang am anderen Ende des Raums befanden sich vielleicht einhundert Metamenschen.
Hol mich der Teufel, dachte Ryan.
Hundert Leute, die sie tot sehen wollten.
Ryan sammelte sich und sprang der ersten Wache entgegen. Mal sehen, ob diese Azzies wirklich so gut sind wie ihr Ruf.
34
Blut gurgelte in Lucero. Es brodelte in ihren Ohren und färbte ihr Blickfeld rot, während der Todesschmerz in ihrem Verstand anhielt. Der brutale Stoß des Macauitl, der sie vom Brustbein bis zum Schritt auftrennte. Das widerliche Geräusch ihrer Eingeweide, als sie aus der Wunde geglitten waren.
Dieser Schmerz definierte ihr Wesen, und es stieß sie ab.
Doch sie mußte ihrem Gebieter gehorchen.
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