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Bisduvergisst

Bisduvergisst

Titel: Bisduvergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friederike Schmöe
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welchen Situationen. Aber bei vielen löste die Frage dasselbe aus, wie bei Kirchler: eine gewisse Erleichterung, gefragt worden zu sein, und deswegen endlich reden zu können.
    »Klar hatten wir Angst. Wir wussten ja nicht, was die mit uns machen würden. Die Nazis, die kannte man. Auch diejenigen, mit denen man am liebsten nichts zu tun hatte.«
    Ich wartete.
    »Nachher, als sie uns die Bilder von Auschwitz zeigten, da hatte ich das Gefühl, betrogen worden zu sein. Um meine Jugend, mein ganzes Leben.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »War’s das?«
    »Wie hat man gelebt in jenen Tagen?«, fragte ich.
    »In Unsicherheit. Wir mussten später, als die Amis da waren, aus unserem Haus raus. Da kamen drei Offiziere, Quartiermacher. Aber bis dahin … eigentlich war uns fast alles egal. Hauptsache, wir lebten noch. Mir war damals definitiv alles gleichgültig. Ich wollte am liebsten nichts mehr mitkriegen. Hatte mir die Tage vorher damit vertrieben, im Wald auf Kaninchenjagd zu gehen.« Er biss sich auf die Lippen.
    »Kaninchenjagd?«
    »Wir hatten Hunger. Es gab ja nichts! Nichts! Buchstäblich nichts. Meine Mutter war schwach, die brauchte was zum Essen, aber woher sollten wir das nehmen? Meine Schwester hat bei Bauern um Mehl gebettelt und Brot gebacken. Ich habe ab und zu Kaninchen geschossen. Nachts, im Wald, wie gesagt. Und dabei ist meine Mutter jedes Mal irre geworden vor Sorge, dass mir was zustößt. Damals sind Leute durch die Nacht gezogen, um Deserteure aufzuknüpfen.« Er schob sein leeres Glas weg. Seine Hände zitterten.
    »Wie muss man sich das vorstellen? Wer ist da durch den Wald gezogen? Um Deserteure einzufangen?«
    »Ich weiß nicht.« Er räusperte sich.
    Sehr unwahrscheinlich, dachte ich. Im Gegenteil. Wem bist du begegnet, als du im Wald Kaninchen geschossen hast? Die Menschen denken, wenn sie so tun, als wüssten sie gar nichts, wären sie aus dem Schneider. Sind sie aber nicht.
    »Ich frage mich, ob Lisa vielleicht einer politischen Rachetat zum Opfer gefallen ist«, wagte ich mich vor.
    »Lisa? Fangen Sie damit wieder an? Von Lisa weiß ich nichts.«
    »Aber Sie waren doch befreundet. Sie und Irma. Oder?« Ich dachte an das Foto, auf dem die drei als Kinder zu sehen waren. »Auch Lisa gehörte dazu. Sie wohnte ja eine ganze Weile bei Irma.«
    Sein Blick wurde dunkel. »Sie müssen jetzt gehen.«
    Nebenan dröhnte der Tagesschau-Jingle.
    »Schade.« Ich erhob mich.
    »Und Sie brauchen auch gar nicht wiederzukommen«, rief er mir nach, während ich durch den langen Flur zur Haustür ging. »Ich weiß nichts.«

42
    »Er mauert«, berichtete ich Juliane, als ich kurz nach 20 Uhr endlich auf meinem Küchensofa lag.
    »Menschen sind antithetisch, mein Liebchen. Gerade wenn sie reden wollen, können sie nicht.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich wusste seit geraumer Zeit, dass mit Dolly etwas nicht stimmt. Aber ich konnte nicht darüber sprechen. Auch mit dir nicht, Sweetheart. Nicht, weil ich dir nicht vertraue. Es schien mir einfach, als würde das Schreckliche noch wahrer, noch wirklicher, wenn ich es in Worte fasse.«
    »Ja, das ist oft so«, gab ich zu.
    »Du fehlst mir.«
    »Du mir noch mehr.«
    »Ich habe für Dolly eine Kurzzeitpflege in einem Seniorenheim organisiert. In ein paar Tagen liefere ich sie dort ab. Wenigstens für zwei Wochen will ich mein altes Leben zurück. Du weißt ja: Als Krankenschwester bin ich nur bedingt geeignet.«
    »Dolly konnte nichts Besseres passieren, als dich zur Schwester zu haben!«
    »Schmeichlerin.«
    Ich schenkte ihr dieses Kompliment aus tiefster Überzeugung. Wann immer es mir schlecht ging, wünschte ich mir Juliane an meiner Seite. Mit ihrer Tatkraft, ihrer Kaltschnäuzigkeit gegenüber Autoritäten, ihrer unaufdringlichen Fürsorge.
    »Wenn du frei hast«, sagte ich rasch. »Komm doch zu mir. Ich schreibe …«
    »… und ich darf kochen?«
    »Quatsch, wie kommst du darauf?«
    »Das könnte dir so passen.« Sie gluckste vor Lachen.
    »Ich wollte etwas ganz anderes sagen.«
    »Behalte es für dich. Wir sehen uns.«
    Sie legte auf. Ratlos betrachtete ich das Telefon in meiner Hand. Undurchschaubare Juliane. Plötzlich vermisste ich sie so sehr, dass sich mein Magen vor Sehnsucht zusammenzog. Vielleicht tat er das aber auch nur, weil ich hungrig war. Draußen schnatterten Waterloo und Austerlitz.
    Missmutig kramte ich in der Tiefkühltruhe. Keins von den Fertiggerichten sprach mich an. Ich hatte Appetit auf etwas Frisches. Auf Salat, Tomaten,

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