Blinde Goettin
Schweigepflicht.«
»Da mach dir mal keine Sorgen«, entgegnete sie. »Das habe ich mir vorher überlegt, und ich habe mich lange mit meinem erfahrensten und klügsten Kollegen beraten.«
Håkon hätte gern erwähnt, daß auch der Richter nicht gerade unerfahren und Christian Bloch-Hansen in Strafprozessen kein Novize sei. Was Greverud & Co.s Kompetenz in dieser Hinsicht betraf, hatte er da größere Zweifel. Aber das verkniff er sich. Wenn sie sich keine Sorgen machte, war das nur gut.
»Warum hast du nicht Bescheid gesagt, ehe du gefahren bist?« fragte er plötzlich ziemlich anklägerisch.
Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Sie wußte nicht so recht, warum. Weder warum sie ihm nicht Bescheid gesagt hatte, noch warum sie keine Antwort geben konnte. Deshalb sagte sie gar nichts.
»Was willst du eigentlich von mir«, fragte er schließlich, von ihrem Schweigen provoziert. »Ich komme mir vor wie ein JoJo. Du erläßt Auflagen und Verbote, und ich gebe mir alle Mühe, mich daran zu halten. Aber du selbst hast nicht mal das nötig! Was soll ich eigentlich glauben?«
Es gab keine klare Antwort. Sie starrte die kleine Lithographie über dem Bett an, als ob die Lösung des Rätsels sich in der blaugrauen Landschaft verstecken könnte. Das tat sie nicht. Es war einfach zuviel. Sie konnte nicht mit ihm reden. Statt ihm das zu sagen, tippte sie mit einem schmalen Zeigefinger auf den Schlußknopf. Als sie den wieder losließ, waren alle Anklagen verschwunden. Es war nur noch ein beruhigendes, leises Summen zu hören, vermischt mit dem schnaufenden Atem des Boxers, der zusammengerollt auf dem Flickenteppich lag.
Das Telefon meldete sich mit einem Hammerlaut. Es schellte mehr als zehnmal, ehe sie wieder abnahm.
»Okay«, sagte weit, weit weg die Stimme. »Wir brauchen nicht mehr über uns zu reden. Du kannst mich ja informieren, wenn du Lust dazu hast. Jederzeit.« Sein Sarkasmus konnte die dünne Schutzschicht aus Alkohol, die sie umgab, nicht durchdringen.
»Es geht darum, daß wir dich noch mal befragen müssen. Kannst du in die Stadt kommen?«
»Nein, das will ich nicht. Ich kann nicht. Ich meine … ich schaff das einfach nicht. Ich habe jetzt zwei Wochen Urlaub, und ich will außer dem Alten im Kaufladen niemanden sehen. Bitte. Erspar mir das!«
Das resignierte Seufzen wurde von den hundertzwanzig Kilometern Entfernung nicht verschluckt. Karen mochte sich auch darum nicht kümmern. In diesem schrecklichen Fall hatte sie mehr als nur ihre Pflicht getan. Jetzt wollte sie alles vergessen, den armen jungen Niederländer, die entsetzlich zugerichtete Leiche, Rauschgift, Mord und das Elend aller Welt. Sie wollte nur an sich und ihre Angelegenheiten denken. Das war mehr als genug. Viel mehr als genug. Nach einigem Nachdenken brachte Håkon eine Alternative. »Dann schicke ich dir Hanne Wilhelmsen. Am Freitag. Geht das?«
Am Freitag ging es überhaupt nicht. Und Donnerstag und Samstag auch nicht. Aber wenn die Alternative eine Fahrt nach Oslo war, dann mußte sie es eben hinnehmen. »Na gut«, stimmte sie zu. »Du kennst ja den Weg. Sag ihr, daß ich die Abzweigung mit einer norwegischen Flagge markiere. Dann kann sie sich nicht verfahren.«
Natürlich kannte er den Weg. Er war vier- oder fünfmal dort gewesen, zusammen mit Karens wechselnden Liebhabern. In mehr als einer Nacht hatte er Oropax benutzen müssen, um den quälenden Geräuschen aus dem Nebenzimmer zu entgehen, Liebesstöhnen und Bettgewackel. Geduldig wie ein Hund hatte er sich auf dem engen Bett zusammengerollt und sich das Wachs so tief in die Ohren geschoben, daß er am nächsten Morgen Mühe hatte, es wieder herauszubekommen. Er hatte in der Hütte von Karens Eltern nie besonders gut geschlafen. Aber oft hatte er dort allein gefrühstückt.
»Dann sag’ ich ihr, sie soll gegen zwölf bei dir sein. Und dir wünsch’ ich weiterhin eine gute Nacht.«
Es war keine gute Nacht gewesen, deshalb konnte es auch weiterhin keine sein. Für Håkon allerdings wurde sie ein bißchen besser, als Karen das Gespräch beendete.
»Gib mich nicht auf, Håkon«, sagte sie leise. »Gute Nacht.«
FREITAG, 27. NOVEMBER
Es hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, um Erstattung der Kosten für diese Fahrt zu bitten. 240 Kilometer in einem übelriechenden Dienstwagen ohne Radio und Heizung waren ihr so wenig verlockend erschienen, daß sie lieber ihr eigenes Auto genommen hatte. Ein Antrag auf Kilometergeld hätte eine Unzahl von Instanzen durchlaufen und wäre
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