Blinde Goettin
Untertasse. Der Hund hob plötzlich den Kopf, und sie warf ihm ein Stück Käse zu, das im Flug aufgefangen wurde.
»Gierschlund!« tadelte sie, aber der Hund schien die Hoffnung, daß ein weiteres Stück Käse den Weg in seinen sabbernden Schlund finden würde, nicht aufzugeben.
Plötzlich fuhr sie hoch und drehte das Radio lauter. Offenbar hatte es einen Wackelkontakt, es brummte entsetzlich. Lavik war verhaftet worden! Himmel, das mußte doch ein Sieg für Håkon sein. Ein zweiundfünfzigjähriger Mann war freigelassen worden, aber gegen beide Entscheidungen war Einspruch erhoben worden. Das mußte Roger sein. Warum hatten sie den einen laufen lassen und den anderen behalten? Sie war sicher gewesen, daß entweder beide sitzen oder beide entlassen werden würden. Viel mehr wurde nicht gesagt.
Langsam regte sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte Håkon versprochen, vor einer eventuellen Reise anzurufen. Das hatte sie nicht getan. Sie konnte es einfach nicht. Vielleicht würde sie ihn heute abend anrufen. Aber nur vielleicht.
Sie hatte aufgegessen, und der Boxer hatte noch zwei Scheiben Käse erbettelt. Sie wollte erst den Abwasch erledigen und dann die zwei Kilometer zum Laden wandern und Zeitungen kaufen. Es war sicher gut, auf dem laufenden zu bleiben.
»Wo, zum Teufel, steckt die Frau denn bloß?« Er knallte den Hörer auf den Schreibtisch. Der Hörer zerbrach. »Ach, verdammt«, sagte er leicht erschrocken und starrte das zerstörte Telefon dümmlich an. Vorsichtig hob er den Hörer ans Ohr. Der Summton war noch zu hören. Ein Gummiband mußte zur vorläufigen Reparatur genügen. »Ich fass’ es nicht«, sagte er, jetzt ruhiger. »Im Büro heißt es, sie sei vorläufig nicht zu erreichen. Zu Hause geht sie nicht ran.« Und Nils rufe ich nun wirklich nicht an, dachte er. Wo steckte Karen Borg?
»Wir müssen sie finden«, erklärte Hanne überflüssigerweise.
»Wir müssen sie dringend noch einmal verhören. Das beste wäre, das heute zu erledigen. Wenn wir Glück haben, entscheidet sich der Einspruchsausschuß erst morgen, dann könnten wir ihnen noch ein neues Verhör präsentieren, nicht?«
»Ja, das schon«, murmelte Håkon. Er wußte nicht, was er glauben sollte. Karen hatte versprochen, sich vor ihrer Abreise noch einmal zu melden. Ihm zu sagen, wohin sie wollte. Voller Selbstverleugnung hatte er seinen Teil der Abmachung eingehalten. Seltsam, daß sie das nicht getan hatte. Wenn sie wirklich weggefahren war. Es gab viele Möglichkeiten. Schließlich konnte sie sich in einer diskreten Besprechung mit einem Mandanten befinden. Und das wäre in der Tat kein Grund zur Aufregung gewesen. Trotzdem wurde er seit Sonntag seine vage Unruhe nicht mehr los. Das tröstliche Gefühl, sich wenigstens in derselben Stadt zu befinden wie Karen, war verschwunden.
»Sie hat ein Mobiltelefon mit Geheimnummer. Setz all dein polizeiliches Gewicht ein, um die zu ergattern. Post, ihr Büro, egal was. Nur besorg mir die Nummer. Das dürfte doch nicht allzu schwer sein. Außerdem mache ich mit der Jagd auf den Stiefellosen weiter, egal, was du sagst«, erklärte Hanne Wilhelmsen und ging in ihr Büro zurück.
Der grauhaarige Mann hatte Angst. Angst war eine unbekannte Feindin für ihn, und er bekämpfte sie energisch. Obwohl er die Zeitungen durchgekämmt hatte, war es unmöglich, sich ein Bild davon zu machen, was die Polizei wirklich wußte. Der Artikel am Sonntag war in dieser Hinsicht erschreckend gewesen. Aber stimmen konnte er nicht. Jørgen Lavik beteuerte doch seine Unschuld, das stand jedenfalls in den Zeitungen. Ergo konnte er nicht geplappert haben. Außer Lavik wußte keiner, wer er war. Also konnte keine Gefahr, es konnte einfach keine Gefahr im Verzug sein.
Die bohrende Angst ließ sich nicht überzeugen. Sie schlug ihre blutigen Krallen in sein Herz, und das tat schrecklich weh. Er keuchte auf und versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Fieberhaft griff er nach der Pillendose in seiner Tasche, fingerte eine Tablette heraus und schob sie sich unter die Zunge. Das half. Er konnte wieder atmen und den verzweifeltsten Teil seiner selbst vorläufig abschotten.
»Himmel, was ist denn mit dir los?« Die gutangezogene Sekretärin stand erschrocken in der Türöffnung und stürzte gleich darauf zu ihrem Chef. »Ist alles in Ordnung? Du bist ja ganz grau im Gesicht!« Ihre Besorgtheit wirkte aufrichtig, und das war sie auch. Sie betete ihren Chef an. Außerdem hatte sie einen Horror vor grauer,
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