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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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Sie mich, wenn ich zu weit gegangen bin, Frau Doktor. Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
    »Aber nein, Herr Graf«, sagte Frau Miegel – mit einem Unterton, den Reni wahrnahm, aber nicht deuten konnte.
    Die Dichterin spreizte die Finger einer Hand ab. »Sie meinen das sogenannte Zweite Gesicht? … Es gibt Gedichte, die sind mir als fertige Bauwerke vom Himmel in den Sinn gestürzt. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wie ich sie zustande gebracht habe. Ich möchte nicht übertreiben, aber bereits als Kind kannte ich Zustände, in denen ich mich plötzlich
an einem anderen Ort befand. Bis heute empfinde ich ein gewisses Misstrauen vor meiner Dichtergabe, ein leises Grausen davor.«
    Bei diesen Worten fühlte Reni, wie ein Schauer über ihren Körper ging.
    Und der Vater sagte nun: »Das Erhabene, dieser unbedingte Wille zur Form unterscheidet uns Deutsche, unsere Sprache und unser Wesen, doch außerordentlich von anderen Kulturen. Und da wir nun das Jüdische aussondern werden, bleibt nur das Reine, Hohe und Edle in seiner unverfälschten deutschen Gestalt, nicht wahr?«
    »Da stimme ich Ihnen mit ganzer Seele zu«, sagte die Dichterin.
    Reni hörte genau zu. Sie wollte jedes der erwachsenen Worte aufsaugen.
    »Beispielsweise wissen wir«, fuhr Frau Miegel fort, »dass das Deutsche eine ausgesprochen nominelle Sprache ist. Die bloßen Hauptworte liegen uns am Herzen. Das Polnische etwa legt die Betonung stärker auf das Prädikat, auf die Verben, auf das Handeln, während die Engländer in Wendungen sprechen. Wir sagen ›Pflichtgefühl‹, in Paris sagt man dagegen: ›Comme ci comme ça!‹« Sie lachte herzlich.
    Reni lachte mit. Der Vater schmunzelte gezwungen.
    »Also ist es unsere heilige Aufgabe«, rief er etwas zu laut, »uns der Welt in dieser höchsten kulturellen Qualität buchstäblich aufzuzwingen!« Er presste einen Moment die Lippen aufeinander. »Jedes Volk, jede Rasse soll das Beste einbringen im Zusammenwachsen der Welt, das ist mir das Wichtigste. Es scheint mir jedoch, und das sage ich ohne falsche Bescheidenheit, als habe die Welt auf uns gewartet, auf den Führer und seinen erklärten Willen, eine von Gott gewollte Ordnung
herzustellen, an deren Spitze unsere Rasse den Ton angibt. Das ist zutiefst vernünftig.«
    Frau Doktor Miegel pflichtete ihm wieder bei. In dem Moment wurde die Abteiltür aufgeschoben. Der Kellner rollte einen kleinen Wagen herein, auf dem sich Brot, Käse, Kaffee, Sahne und das dazugehörige Geschirr und Besteck für drei Personen befanden. Er lenkte ihn zwischen die gepolsterten Sitzbänke, wünschte auffallend freundlich einen guten Appetit und zog sich auf den Gang zurück.
    Das tiefsinnige Gespräch war zu Renis Bedauern nunmehr abgeschnitten. Und sie sah sich leider außerstande, es selbst noch einmal anzuregen; dazu waren die klugen Worte der Frau Doktor und des Vaters viel zu hoch über sie hinweggeflogen. Sie hatte Angst, sich zu blamieren.
    Das Frühstück sah appetitlich aus. Der Vater goss Kaffee in die Tassen. Er füllte sie nur halb, weil der Waggon gefährlich schlingerte. Reni aß zwei Scheiben Brot mit Käse. Die Dichterin begnügte sich mit einem Glas warme Milch.
    Der Vater erzählte von einem Ingenieur aus Dortmund, den er während einer Rennpferdeversteigerung kennengelernt habe. Vom ihm wisse er, dass die deutschen Waggons und Lokomotiven die besten der Welt seien. »Das ist zum Beispiel so eine Tatsache, die man bis zur Machtergreifung vollkommen ignoriert hat.«
    Frau Miegel sah ihn fragend an. Reni verstand nicht, wie sich diese Betrachtung ihres Vaters auf die von Frau Doktor Miegel bezog.
    »Die Welt!«, sagte der Vater und betonte das Wort sonderbar. »Ich betrachte den Zustand der Welt nüchtern und sehe mittendrin unser schönes Vaterland und wie die Siegermächte es heruntergewirtschaftet haben nach dem Kriege. Dabei sind
sie nur neidisch auf uns, auf unsere Leistungen, an die niemand auch nur heranreicht.«
    Frau Miegel nickte zaghaft. Der Vater schwieg, als erwartete er, dass sie etwas sagte. Aber sie blickte nur zum Fenster hinaus und schaute auf die ersten Häuser einer Stadt, in die sie fuhren. Reni fühlte sich ein bisschen müde, als hätte sie selbst so viel geredet.
    »Wittenberg«, stellte der Vater fest.
    Der Zug wurde langsamer. Das Schlagen der Räder auf den Schienen spreizte sich, die Abstände wurden größer, die Wiesen, Zäune, Gärten, Giebel bewegten sich träger vorbei, und fern am Himmel sah Reni plötzlich ein

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