Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Jaimes Tod so vorzustellen, wie ich es gerade beschrieben habe.
»Was für Briefmarken?«, fragt sie. »Erzähl mir genau, wie sie aussehen.«
Ich schildere ihr, was ich in Kathleen Lawlers Gefängniszelle in einem Spind am Fußende ihres Eisenbetts gefunden habe. Einen einzelnen Bogen mit Briefmarken zu fünfzehn Cent, die noch aus einer anderen Ära stammen, in der die Gummierung an der Rückseite, ebenso wie an Aufklebern und den Laschen von Briefkuverts, noch abgeleckt oder mit einem Schwämmchen angefeuchtet werden musste. Jemand hat ihr Briefmarken und Briefpapier geschickt. Jemand, der sich für mich ausgegeben hat.
Im nächsten Moment erscheint die Briefmarke auf dem Bildschirm. Ein breiter weißer Strand mit Grasbüscheln und einem rot-gelb gemusterten Sonnenschirm, der in einer Düne steckt. Im wolkenlosen Himmel über leuchtend blauem Wasser fliegt eine Möwe.
31
Es ist Mitternacht, und wir stochern in unserem Essen herum. Benton hat es geschafft, die Nudeln zu weich zu kochen und den Salat matschig werden zu lassen, aber es hat sowieso niemand großen Appetit.
Sauce bolognese, grüner Salat, Salatdressing, ja, selbst der Wein erinnern mich daran, dass unser friedliches und gefahrloses Zusammenleben auf diesem Planeten auf erschreckend tönernen Füßen steht. Es gehört so wenig dazu, eine Katastrophe auszulösen. Tektonische Platten, die sich verschieben, können einen Tsunami hervorrufen. Aufeinanderprallende Wetterfronten können Hurrikanes und Tornados zur Folge haben. Doch das Schlimmste ist und bleibt weiterhin das, was Menschen einander antun.
Colin Dengate hat mir vor etwa einer Stunde eine Mail geschickt und mir Dinge mitgeteilt, die er mir eigentlich verschweigen müsste. Aber so ist er nun einmal, ein Redneck, wie er sich selbst nennt. Bewaffnet und gefährlich, das betont er gern, braust er in seinem alten Land Rover durch die sengende Hitze und fürchtet sich vor nichts und niemandem, auch nicht vor Bürokraten – oder Bürosauriern. Das ist seine Bezeichnung für Menschen, die sich von Vorschriften, strategischen Überlegungen oder Ängsten daran hindern lassen, das Richtige zu tun. Deshalb wird er mich nicht aus den Ermittlungen ausschließen.
Colin hat mir geschrieben, dass Jaime, ebenso wie Kathleen Lawler, bei bester Gesundheit gestorben ist. Bei der vorläufigen Untersuchung konnte keine Todesursache festgestellt werden. Doch ihr Mageninhalt war unverdaut und enthielt rosafarbene, rötliche und weiße Tabletten, unserer Ansicht nach Ranitid, Sudafed und Betadorm. Außerdem hat er erklärt, Sammy Chang habe ihm die Laborberichte übermittelt, die vermutlich nichts zu bedeuten haben, außer dass Kathleen an einer Schwermetallvergiftung gestorben ist. Das hält Colin allerdings für unwahrscheinlich, und damit hat er recht. Er wollte auch wissen, ob Spurenelemente von Magnesium, Eisen und Sodium mir etwas sagen.
»Das verstehe ich.« Benton läuft zwischen den Fenstern mit Blick auf den Savannah River auf und ab. Am anderen Ufer, wo sich Schiffskräne schwach vom dunklen Himmel abheben, blinken Lichter. »Aber Sie dürfen nicht vergessen«, sagt er zu Special Agent Douglas Burke von der Außenstelle des FBI in Boston, »dass es ein tödliches Gift sein könnte.«
Aus den Gesprächsfetzen, die ich aufschnappe, schließe ich, dass Douglas Bourke, ein Mitglied der Einheit, die in den Mensamorden ermittelt, zögert, Bentons Fragen zu beantworten, und nur bestätigt, was das Massachusetts General Hospital den Medien mitgeteilt hat. Dawn Kincaid leidet an Botulismus. Sie hängt noch immer an lebenserhaltenden Maschinen. Ihr Gehirn arbeitet nicht mehr. Benton hat sich geradeheraus erkundigt, ob Briefmarken zu fünfzehn Cent mit einem Sonnenschirm darauf in ihrer Zelle im Butler Hospital gefunden wurden.
»Irgendwie muss sie schließlich mit dem Gift in Berührung gekommen sein«, beharrt er. »Es sei denn, die Keime waren in der Verpflegung im Butler Hospital, was ich stark bezweifle. Haben noch andere Patienten Botulismus? … Genau. Die Gummierung auf den Briefmarken ist möglicherweise die Übertragungsquelle.«
»Konnte man essen, aber ohne Benton zu nahe treten zu wollen, sollte er künftig einen Bogen um die Küche machen.« Marino schiebt das Schälchen mit dem Rest Sauce bolognese ohne Nudeln weg, die sich in Matsch verwandelt haben. »Die Botox-Diät. Man braucht einfach nur ständig an Botulismus zu denken. Dann nimmt man automatisch ab. Doris hat selbst eingeweckt«, fügt
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