Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
begleitet von einem lauten Quietschen, die Scheibe verschmieren. Mein Kopf tut weh, als hätte ich Zahnschmerzen, und ich habe keine Tabletten mehr, weil ich die letzte heute Vormittag genommen habe.
Ich rumple an einem Lastwagenhandel und einer Autowerkstatt vorbei. Alles wirkt einsam, abweisend und bedrohlich, als säße die ganze Welt im Gefängnis. Seit vielen Kilometern schon bin ich keinem anderen Fahrzeug begegnet, und ich habe dieselbe unheilvolle Vorahnung, die mich immer überkommt, wenn etwas Schreckliches bevorsteht. Ein Stillstand, eine Realitätsverschiebung, ein unheimliches Gefühl, die stets eine Hiobsbotschaft, einen tragischen Todesfall oder einen grausigen Anblick in einem Raum ankündigen, den ich gleich betreten werde. Meine Gedanken kehren zu Lola Daggette zurück.
Ich weiß nicht mehr viel über die Morde an dem Arzt in Savannah und seiner Familie. Nur, dass es ein Blutbad war und dass die Frage, ob es sich um einen oder zwei Täter handelte und ob eine persönliche Beziehung zu den Opfern bestand, bis heute nicht geklärt ist. Ich erinnere mich, dass ich gerade in einem Hotel in Greenwich, Connecticut, war, als ich von der Familie hörte, die »im Schlaf ermordet« wurde, wie es überall in den Nachrichten hieß. Der 6. Januar 2002. Damals saß ich in nahezu allen Lebensbereichen zwischen den Stühlen. Beruflich und auch was Beziehungen und Wohnort anging, lebte ich in einer Welt vor dem 11. September, die sich so sehr von der unterschied, die man uns seitdem hinterlassen hat. Es war wirklich eine schreckliche Zeit und so verwirrend und deprimierend, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich sah mir bei einem frühen Abendessen in meinem Zimmer die Nachrichten an, als ich von dem Gemetzel in Savannah erfuhr, das einem jungen Mädchen zugeschrieben wurde. Ihr jugendliches Gesicht war immer wieder auf dem Bildschirm zu sehen, ebenso wie die Südstaatenvilla der Opfer, deren Veranda mit gelbem Flatterband abgesperrt war.
Lola Daggette .
Bei der Anklageverlesung lächelte sie in die Kamera und winkte den Menschen im Gerichtssaal zu, als ahne sie nicht, in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Ihre silberne Zahnspange und die Pubertätsakne auf den rundlichen Wangen erschreckten mich. Sie wirkte wie ein harmloses junges Mädchen, das die Aufmerksamkeit und das Drama als verwirrend empfindet, sie aber auch genießt, und ich musste mir wieder einmal vor Augen halten, dass man den wenigsten Menschen das, was sie tun, ansieht. Ich kann noch so oft mit der Nase darauf gestoßen werden, und bin doch jedes Mal aufs Neue überrascht und schockiert darüber, wie leicht man andere nach ihrem Äußeren beurteilt. Und sich dabei meistens irrt.
Ich gehe vom Gas und fahre auf den Parkplatz der ersten geöffneten Ladenzeile, die mir in dieser Gegend bis jetzt untergekommen ist. Ein Baumarkt, ein Drugstore mit angeschlossener Apotheke und eine Waffenhandlung, vor der einige Pick-ups und SUV stehen. Neben einem Geldautomaten sehe ich ein öffentliches Telefon. Kein Wunder, dass es neben einem solchen Laden ein Telefon und einen Geldautomaten gibt. Schließlich ist auf dem Ladenschild ein Körperdiagramm in einem durchgestrichenen Kreis abgebildet. Sei kein Opfer. Kauf dir eine Waffe , lautet die Aufschrift. Durch die bruchsichere Scheibe kann ich eine Wand voller Gewehre und Schrotflinten erkennen. Dazu eine Vitrine, vor der sich einige Männer versammelt haben. Links von der Tür hängt ein schwarzes Telefon in einem an der Mauer befestigten Kasten aus Edelstahl.
Ich greife nach meinem Aktenkoffer und hole das iPad heraus. Der Regen prasselt stetig aufs Blechdach. Ich schalte den monoton hin und her fahrenden Scheibenwischer und die Scheinwerfer ab, lasse das Fenster jedoch einen Spalt offen und den Motor laufen. Dann klicke ich den Browser an, gehe ins Internet, gebe Lola Daggettes Namen ein und lese einen Artikel aus dem Atlanta Journal-Constitution vom vergangenen November:
MÖRDERIN AUS SAVANNAH UNTERLIEGT
IM LETZTEN BERUFUNGSVERFAHREN
Die Frau, die vor fast neun Jahren wegen der grausamen Morde an einem Arzt, seiner Frau und ihren zwei kleinen Kindern in Savannah zum Tode verurteilt worden war, wurde heute von Georgias Oberstem Gerichtshof mit ihrer Bitte um Aufschub zurückgewiesen. Nun ist der Weg zu ihrer Hinrichtung frei.
Lola Daggette wurde für schuldig befunden, am 6. Januar 2002 in die dreistöckige Villa von Dr. Clarence Jordan in Savannahs Altstadt eingebrochen zu sein. Laut
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