Blutschande
der falschen Fährte? War es in Wirklichkeit so einfach, dass doch Kent Levin alle drei Morde begangen hatte, den letzten während seines Freigangs aus dem Gefängnis? Oder hatte Henrik Frandsen alle seine Spuren bis zur Perfektion beseitigt?
Liv fasste sich an den Kopf. Sie stand auf und betrachtete die Tafel aus dem Sitzungsraum, die in ihr Büro geschoben worden war. Sie starrte auf das Foto von Henrik Frandsen. Leiter der Reitschule. Was hatten sie übersehen? Waren sie so müde, dass sie nichts mehr sahen?
Das Telefon auf ihrem Tisch klingelte. Es war der Wachhabende. Er hatte jemanden in der Leitung, der vorgab, Hinweise im Fall des ermordeten Kinderstars zu haben.
»Trauen Sie sich zu, den Anruf entgegenzunehmen? Nur Sie sind noch im Haus, nicht wahr?«
Liv seufzte. Jeden Tag gingen gut hundert Anrufe von Menschen bei ihnen ein, die zu wissen glaubten, wer den kleinen Star ermordet hatte. Trotzdem musste jeder Anrufer mit dem gleichen Ernst behandelt werden.
»Stellen Sie den Anruf durch.«
»Bitte«, sagte der Wachhabende und ging aus der Leitung.
»Mordkommission, Sie sprechen mit Liv Moretti.«
Ein heftiges Stöhnen war am anderen Ende zu hören, und Liv wollte schon wieder auflegen, als eine dünne Frauenstimme flüsterte:
»Ich weiß, wer es getan hat.«
Dann wurde es still.
»Okay, aber zuerst muss ich wissen, mit wem ich spreche«, sagte Liv, doch die Leitung blieb erst einmal wieder stumm. Nur der schwere Atem verriet, dass die Frau noch da war.
»Ich muss Sie um Ihren Namen bitten«, sagte Liv wieder mit der freundlichsten Stimme, die sie aufbieten konnte.
Es war jetzt vollkommen still am anderen Ende, und Liv gab die Hoffnung schon auf, als sie plötzlich eine andere Stimme rufen hörte, dass sie auflegen sollte. Sie presste sich den Hörer aufs Ohr und lauschte.
»Auflegen!«, rief die Person wieder, und Liv erkannte, dass es ein Mann war.
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Liv starrte auf den Hörer und legte auf. Dann schüttelte sie den Kopf. Dieser Fall zog wirklich die merkwürdigsten Menschen an. Aber dieser Anruf war irgendwie anders. Wer war dort im Hintergrund gewesen? Sie nahm das Päckchen Zigaretten vom Tisch, schnippte eine heraus und griff zum Feuerzeug. Dann trat sie an das große Fenster und öffnete es.
Die kühle Abendluft erschien mit einem Mal sehr angenehm. Obwohl sie wusste, dass sie allein war, sah sie sich noch einmal um. Dann schloss sie die Tür und ging zurück ans Fenster. Eine einzelne Zigarette am Fenster würde doch niemand bemerken. Das Feuerzeug warf einen Lichtschein auf ihr Gesicht, als sie die Zigarette anzündete. Sie atmete aus und beobachtete zufrieden, wie der Rauch vom Wind mitgerissen wurde. Das Einkaufszentrum drüben auf der anderen Straßenseite war schon eine Weile geschlossen, trotzdem warteten an der Bushaltestelle noch ein paar Menschen auf den Bus.
Sie dachte an den Anruf. Warum rief jemand bei der Polizei an, um so etwas zu sagen? Und was war geschehen, nachdem der Hörer aufgelegt worden war? Sollte sie überprüfen, ob alles in Ordnung war, oder griff sie damit zu sehr in die Intimsphäre dieser Menschen ein? Es konnte ja die Stimme des Mannes oder Lebensgefährten der Anruferin gewesen sein. Liv nahm noch einen Zug und knibbelte an ihren Nägeln. Und wenn die Frau am anderen Ende tatsächlich wusste, wer der Täter war? Und jetzt etwas mit ihr geschah? Liv fluchte innerlich. Diesen Gedanken würde sie die ganze Nacht hindurch nicht loswerden.
»Verdammte Scheiße«, sagte sie laut und drückte die Zigarette in einer Topfpflanze aus. Sie ließ das Fenster noch eine Weile offen stehen, damit der Rauchgeruch verfliegen konnte, und rief den Wachhabenden an.
»Eine Frage: Können wir den letzten Anruf zurückverfolgen?«
»Das kriege ich hin«, sagte er und legte auf.
Liv stand wieder auf und sah aus dem Fenster. Jetzt war die Bushaltestelle leer. Ein einsames Auto fuhr draußen im Dunkeln vorbei, als ihr Telefon klingelte. Es war der Wachhabende.
»Mette Berendsen«, sagte er. »Kelleris Vang 10, in Espergærde.«
»Sie sind ein Schatz«, rief Liv und notierte sich Namen und Adresse.
»Gerne geschehen«, sagte er und legte auf.
Liv parkte den Dienstwagen vor einem kleinen Reihenhaus in dem Neubauviertel am Kelleris Vang. Als sie noch ein Kind war, hatte es hier nur weite, goldene Felder gegeben. Mit schnellen Schritten ging sie über die Einfahrt, vorbei an einem kleinen Vorgarten mit einer frisch gepflanzten,
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