Blutschande
auf die andere Seite zu drehen und weiterzuschlafen.
»Hier ist Ole«, kam es brummend vom anderen Ende.
Liv wandte sich lächelnd wieder der Aussicht zu. In der Ferne, drüben in Schweden, blinkten Autoscheinwerfer auf.
»Was ist los, Alter?«
»Heh, der Einzige, der mich alt nennen darf, bin ich selbst.«
Liv lachte, woraufhin Roland sich ein weiteres Mal umdrehte.
»Du, ich habe über eine Sache nachgedacht.«
»Ja.«
»Ich habe deinen Bericht über diese Dicke gelesen.«
»Über Mette Berendsen?«
»Ja, genau, diese Mette. Du schreibst, dass sie ein eigenes Haus am Kellerisvang in Espergærde bewohnte.«
»Ja, laut ihrer Mutter ist sie da vor vier Jahren eingezogen. Und?«
»Und sie lebt von ihrer Invalidenrente?«
»Ja, anscheinend war sie zu fett zum Arbeiten.«
»Wundert es dich denn gar nicht, dass so etwas möglich ist?«
»Wie meinst du das?«, fragte Liv.
»Also, wenn ich richtig informiert bin, haben die Eigentumswohnungen am Kellerisvang einen Wert von etwa 2,8 Millionen Kronen. Wie hat sie sich das leisten können?«
Liv zog die Augenbrauen zusammen. Ole hatte recht. Da passte etwas absolut nicht zusammen.
»Was willst du damit andeuten?«
»Ich denke, es würde sich lohnen, mal einen Blick auf ihr Konto zu werfen. Woher hatte sie das Geld? Natürlich kann es auch eine ganz simple Erklärung geben. Vielleicht hatte sie ja geerbt, ihr Vater ist doch gestorben, oder? Wie gesagt, das ist bloß so ein Gedanke.«
»Aber ein guter.«
Liv schwieg ein paar Sekunden und sah zu Roland hin-über, ohne ihn wirklich zu sehen. Ihre Gedanken waren an einem anderen Ort. Dann fasste sie einen Entschluss.
»Ich glaube, dass der Täter bei ihr zu Hause nach irgendetwas gesucht hat, deshalb das Chaos«, sagte sie. »Ich fahr da noch mal raus.«
Sie legte auf, bevor Ole protestieren konnte, und rief Miroslav an, der gerade erst das Büro und Mette Berendsens Computer verlassen hatte.
»Kannst du mal ihr Konto überprüfen? Eine Frau wie sie hat sicher Internetbanking gemacht, ich meine, die ist doch nie rausgegangen. Ich muss wissen, woher sie ihr Geld bekam und wie sie sich das Haus leisten konnte, in dem sie wohnte.«
»Das geht dann aber erst morgen, ich muss dringend nach Hause und schlafen.«
»Morgen ist gut«, sagte Liv und legte auf.
Sie zog eine löchrige Jeans und einen Kapuzenpulli aus dem Schrank, nahm ihren Hut und stürmte aus dem Haus. Einen Moment überlegte sie, ob sie das Auto nehmen sollte, entschied sich dann aber doch für ihr Fahrrad. Auch wenn Roland den größten Teil des Joints geraucht hatte, lohnte es sich nicht, ein solches Risiko einzugehen.
Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie unter dem Absperrband der Polizei hindurch und betrat das leere Reihenhaus. Drinnen sah es aus wie bei einem Ausverkauf, bei dem alle einfach gegangen waren, nachdem sie gefunden hatten, was sie gesucht hatten. Sie sah sich in den Räumen um, die einmal ein Zuhause gewesen waren, oder in diesem Fall vielleicht eher eine Höhle. Ein Versteck vor der Welt, aus der die Ermordete sich abgemeldet hatte.
Liv ging durch das Wohnzimmer und über die Treppe nach oben ins Schlafzimmer. Sie hob eine Schachtel vom Boden auf und durchwühlte sie. Schmuck und diverse Spangen für die Haare lagen wild durcheinander. Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
Warum hat sie sich versteckt? Was hatte sie erlebt? Was war so fürchterlich gewesen, dass es sie vollkommen aus der Bahn geworfen hatte? Und war dieses Erlebnis schließlich auch der Grund für ihren Tod?«
»Ich weiß, wer das getan hat«, hatte sie Liv am Telefon gesagt, unmittelbar bevor sie ermordet worden war.
»Was war dein Geheimnis?«, flüsterte Liv in das leere Schlafzimmer.
Sie ging um das Bett herum und versuchte, nicht auf eine der zahllosen Sachen zu treten, die am Boden lagen. Kleider, Nippes, Essen und leere Colaflaschen, alles wild durcheinander. Sie seufzte und ließ ihren Blick weiter durch den Raum schweifen. Wo würde man wichtige Sachen verstecken? Ihr Blick fiel auf den geöffneten Kleiderschrank, in dem all die großen Blusen und T-Shirts von den Bügeln gerissen worden waren. Sie trat dicht an den Einbauschrank heran, steckte den Kopf hinein und tastete mit der Hand die Innenseiten, die Rückwand und den Boden ab. Dann ging sie in die Knie und durchsuchte noch einmal alles. Nichts. Sie erhob sich und musterte das Bett, rüttelte an den Bettpfosten, aber keiner war locker oder ließ sich öffnen.
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