Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
sofort mit der vollen Wahrheit gekontert, das heißt selbstverständlich nicht mit der vollen Wahrheit. Ich habe einen ganzen Tag bei ihm in Duchowo verbracht. Prachtvolles Gut und schönes Haus.«
»Ist er denn immer noch in Duchowo?« Nikolaj Wsewolodowitsch belebte sich plötzlich und sprang mit einem heftigen Ruck nach vorne beinahe auf.
»Nein, er hat mich heute vormittag hierhergebracht, wir sind zusammen zurückgekehrt«, sagte Pjotr Stepanowitsch, der die augenblickliche Erregung Nikolaj Wsewolodowitschs zu bemerken schien. »Was soll das, ich habe ja das Buch heruntergeworfen«, mit diesen Worten bückte er sich, um den von ihm angestoßenen prachtvoll illustrierten Band aufzuheben. »›Die Frauen bei Balzac, mit Bildern‹«, plötzlich schlug er das Buch auf, »noch nie gelesen. Auch Lembke schreibt Romane.«
»Ja?« fragte Nikolaj Wsewolodowitsch anscheinend interessiert.
»In Russisch und ganz heimlich, selbstverständlich. Julija Michajlowna weiß davon und hat es erlaubt. Er ist eine Schlafmütze; übrigens mit guten Manieren; bei denen ist so etwas Training. Diese strenge Form, diese Contenance! Wir sollten auch etwas davon haben.«
»Sie loben die Administration?«
»Aber wie sollte man nicht? Das einzige, was wir in Rußland an Gewachsenem und an Erreichtem haben … Schluß! Schluß!« brach er plötzlich ab. »Ich meine etwas anderes, kein Wort über das delikate Thema! Aber nun leben Sie wohl, Sie sehen irgendwie grün aus.«
»Ich habe Fieber.«
»Absolut glaubhaft, Sie gehören ins Bett. Nebenbei: Hier, in diesem Landkreis gibt es Skopzen , ein kurioses Volk. Davon übrigens später. Übrigens, trotzdem noch eine kleine Anekdote: Hier im Landkreis liegt ein Infanterieregiment. Am Freitagabend habe ich in B. mitgefeiert, ein Saufgelage mit den Offizieren. Wir haben dort drei Freunde, Vous comprenez ? Man sprach über Atheismus, und Gott, versteht sich, wurde einfach kassiert. Sie freuen sich und quieken vor Vergnügen. Übrigens behauptet Schatow, daß man unbedingt mit Atheismus beginnen müßte, wenn man in Rußland einen Aufstand anfangen will. Vielleicht stimmt das. Ein ergrauter Bourbon, ein Hauptmann, saß dabei, er saß da, unerschütterlich schweigend, ohne ein einziges Wort zu sagen, plötzlich pflanzt er sich mitten im Raum auf und sagt laut, wissen Sie, wie im Selbstgespräch: ›Wenn es keinen Gott gibt, was bin ich dann für ein Hauptmann?‹ Nahm seine Mütze, zuckte mit den Achseln und ging.«
»Ein recht brauchbarer Gedanke.« Nikolaj Wsewolodowitsch gähnte zum dritten Mal.
»Ja? Ich habe das nicht verstanden; ich wollte Sie fragen. Also, was soll ich Ihnen noch erzählen: Interessant ist die Fabrik der Schpigulins; fünfhundert Arbeiter, Sie wissen, Infektionsherd, Cholera, seit fünfzehn Jahren nicht renoviert, die Fabrikarbeiter werden dauernd übervorteilt; die Unternehmer sind Millionäre. Ich versichere Ihnen, daß unter den Arbeitern manche über die Internationale Bescheid wissen. Wie, Sie lächeln? Sie werden noch sehen, lassen Sie mir nur ganz, ganz wenig Zeit, gönnen Sie mir nur eine ganz, ganz kleine Frist! Ich habe Sie schon einmal um eine Frist gebeten, und jetzt bitte ich noch einmal darum, und dann … übrigens, pardon, ich tu’s nicht mehr, ich tu’s nicht mehr, ich meine etwas anderes, Sie brauchen die Brauen nicht zu runzeln. Also, leben Sie wohl. Aber was ist mit mir los?« Er kehrte plötzlich um. »Ich habe etwas vergessen, das Wichtigste: Soeben wurde mir gesagt, daß unsere Kiste aus Petersburg angekommen ist.«
»Wie bitte?« Nikolaj Wsewolodowitsch sah ihn verständnislos an.
»Das heißt Ihre Kiste, Ihre Sachen, mit den Fräcken, den Beinkleidern und der Wäsche; ist sie angekommen? Stimmt das?«
»Ja. Man hat mir vorhin so etwas gemeldet.«
»Ach, wäre es möglich, mir sofort …«
»Sprechen Sie mit Alexej.«
»Aber jedenfalls morgen, morgen? Denn bei Ihren Sachen sind auch mein Jackett, mein Frack und die drei Beinkleider von Charmeur , Ihre Empfehlung, erinnern Sie sich?«
»Ich habe gehört, daß Sie hier als Gentleman auftreten?« lächelte Nikolaj Wsewolodowitsch. »Stimmt es, daß Sie vorhaben, bei einem Reitmeister reiten zu lernen?«
Pjotr Stepanowitschs Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
»Wissen Sie«, plötzlich hatte er es furchtbar eilig, seine Stimme zitterte irgendwie und überschlug sich, »wissen Sie, Nikolaj Wsewolodowitsch, wir wollen doch alles Persönliche beiseite lassen, nicht wahr, ein
Weitere Kostenlose Bücher