Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
tragen getrennte Rennen aus, das stimmt schon, aber die Gründe dafür sind vor allem logistischer Art: Mütter, die eine Schar kleiner Kinder zu betreuen haben, können nicht zwei Tage lang durch die Canyons rennen. Sie müssen näher am Wohnort bleiben, also sind ihre Rennen im Allgemeinen kürzer (nach Tarahumara-Maßstäben gelten 65 bis 100 Kilometer als »Kurzstrecke«). Frauen werden dennoch als erstklassige Läuferinnen anerkannt und dienen häufig als cho’kéame – eine Mischung aus Teamkapitän und leitender Buchmacher -, wenn die Männer Rennen austragen. Im Vergleich zu footballverrückten Amerikanern sind die Tarahumara-Männer Emma -Abonnenten.
Fisher war schon einmal blamiert worden, als sein ganzes Team ausgestiegen war. Jetzt stand er, durch sein eigenes Verschulden, im Rampenlicht eines landesweit im Fernsehen übertragenen Kampfes der Geschlechter, den er ziemlich sicher verlieren würde. Anns vor zwei Jahren aufgestellte Bestzeit in Leadville war nur 30 Minuten langsamer gewesen als Victorianos 20 Stunden und 3 Minuten aus dem Vorjahr, und seitdem hatte sie sich phänomenal verbessert. Man musste sich nur ihre Western-States-Resultate ansehen. Innerhalb eines einzigen Jahres war sie 90 Minuten schneller geworden. Niemand konnte vorhersagen, was passieren würde, wenn sie nach Leadville hineinstürmte und dabei noch eine Rechnung offen hatte.
Außerdem hielt Ann alle Trümpfe in der Hand: Victoriano und Cerrildo waren dieses Jahr nicht mehr dabei (sie mussten Mais pflanzen und hatten keine Zeit für ein zweites Rennvergnügen), Fisher musste also auf seine beiden besten Läufer verzichten. Ann hatte die Frauenwertung in Leadville bereits zweimal gewonnen, genoss also im Unterschied zu allen von Fisher angeworbenen Neulingen den enormen Vorteil, dass sie jede verwirrende Wegbiegung auf dieser Rennstrecke kannte. Verpasste man in Leadville eine Wegmarke, konnte man kilometerweit durch die Dunkelheit irren, bevor man auf die Strecke zurückfand.
Ann passte sich auch mühelos an große Höhen an und wusste besser als all ihre Konkurrenten, wie man die logistischen Probleme eines 160-Kilometer-Rennens analysieren und angehen musste. Ein Ultramarathon ist im Prinzip eine binäre Gleichung, die aus Hunderten von Ja-/Nein-Fragen besteht: Jetzt gleich essen oder noch abwarten? Diesen Hügel erstürmen oder das Tempo drosseln und die Beine für die flachen Strecken schonen? Nachsehen, was in der Socke juckt, oder weiterlaufen? Eine extreme Streckenlänge vergrößert jedes Problem (eine Blase wird zu einer blutdurchtränkten Socke, man lässt einen Powerriegel aus und läuft anschließend so benebelt durch die Landschaft, dass man eine Wegmarke verpasst), also reicht schon eine falsche Antwort, um ein Rennen zu verderben. Aber nicht für die äußerst lernfähige Ann; bei Ultralangstreckenläufen hatte sie immer die richtige Antwort parat.
Um es kurz zu machen: Höchste Anerkennung galt den Tarahumara, diesen erstaunlichen Amateuren, aber diesmal hatten sie es mit einem Spitzenprofi in diesem Geschäft zu tun. (Und das war wörtlich zu nehmen; Ann stand mittlerweile auf der Nike-Gehaltsliste.) Die Tarahumara hatten ihren kurzen, glanzvollen Auftritt als Leadville-Champions gehabt, aber diesmal kehrten sie als Außenseiter zurück.
Das waren die Burschen mit den Zauberercapes.
Fisher wollte unbedingt einen gleichwertigen Ersatz für seine beiden ausgefallenen Veteranen, also war er Patrocinio die 2700 Höhenmeter hinauf ins Bergdorf Choguita gefolgt. Dort traf er auf Martimano Cervantes, einen 42 Jahre alten Meister des Ballspiels, und seinen Protegé, den 25-jährigen Juan Herrera. In Choguita wird es nachts bitterkalt, aber die Tage sind sehr heiß, deshalb schützen sich die Tarahumara von Choguita selbst beim Laufen mit feinen Wollponchos, die fast bis zu den Füßen reichen. Wenn sie mit wehenden Capes einen Pfad entlangrennen, wirken sie wie Zauberer, die aus einer Rauchwolke auftauchen.
Juan und Martimano waren sich nicht sicher. Sie hatten ihr Dorf bisher noch nie verlassen, und dieses Angebot klang nach einer langen Zeit, die sie unter den Bärtigen Teufeln allein sein würden. Fisher ging ihre Widerstände frontal an; er hatte Geld und redete Klartext. Der Winter im Hochland von Choguita war trocken gewesen, der Frühling noch schlimmer, und Fisher wusste, dass die Nahrungsmittelvorräte gefährlich zusammengeschmolzen waren. »Kommt mit und lauft mit uns, und ich gebe eurem Dorf eine
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