Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
kleine Unregelmäßigkeit in diesem Rhythmus auf. Martimano schien jetzt einen Fuß sorgsamer zu behandeln, er setzte ihn vorsichtig auf, anstatt ihn einfach nach vorne zu schwingen. Auch Juan fiel das auf; immer wieder drehte er sich um und sah Martimano fragend an.
»¿Qué pasa?«, fragte Shaggy. »Was ist los?«
Martimano antwortete nicht sofort, vermutlich ging er in Gedanken die vergangenen zwölf Stunden durch, um den Grund für seine Beschwerden zu finden: Waren es diese 20 Kilometer gewesen, auf denen er zum ersten Mal in seinem Leben Laufschuhe getragen hatte? Das Laufen in diesen holprigen Serpentinen in der Dunkelheit? Das Rutschen über glitschige Steine in einem reißenden Fluss? Oder war es …
»La bruja«, sagte Martimano; es musste die Hexe gewesen sein. Die ganze Episode vor einigen Stunden in der Feuerwache, plötzlich passte alles zusammen. Anns wütendes Starren, das Kauderwelsch, das sie ihm entgegengeschleudert hatte, die schockierten Mienen der Umstehenden, Kittys Weigerung, diese Worte auf Spanisch zu wiederholen, Shaggys Kommentar – es war offensichtlich. Ann hatte ihn mit einem Zauberbann belegt. »Ich überholte sie«, sagte Martimano später, »aber dann verwünschte sie mein Knie.«
Martimano hatte gefürchtet, dass etwas in dieser Art passieren würde, seit sich der Pescador geweigert hatte, ihren Schamanen mitzunehmen. Die Schamanen in den Barrancas beschützen die Iskiate und Pinole vor Hexerei und bekämpfen jeden Zauberbann, der sich gegen die Hüften, Knie und Pobacken richtet, durch Massagen mit glatten Steinen und zerriebenen Heilkräutern. Aber in Leadville hatten die Tarahumara keinen Schamanen an ihrer Seite, und siehe da: Zum ersten Mal in 42 Lebensjahren war Martimanos Knie den Belastungen durch einen Lauf nicht gewachsen.
Als Shaggy begriff, was da vor sich ging, empfand er spontane Zuneigung. Sie sind keine Götter, erkannte er. Sie sind nur Menschen . Und wie bei allen anderen Menschen auch konnte sie das, was sie am meisten liebten, ins größte Elend und in die größte Verwirrung stürzen. Ein Lauf über 160 Kilometer war auch für die Tarahumara keine schmerzfreie Angelegenheit. Sie mussten sich ihren Zweifeln stellen und den kleinen Teufel auf ihrer Schulter zum Schweigen bringen, der ihnen ständig die besten Argumente für ein Aussteigen ins Ohr flüsterte.
Shaggy sah zu Juan hinüber, der hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch loszulaufen, und der Verpflichtung, bei seinem Mentor zu bleiben. »Legt los«, sagte Shaggy zu Juan und dessen Schrittmacher. »Ich kümmere mich um ihn. Lauft und jagt diese bruja wie ein Reh!«
Juan nickte und verschwand wenig später hinter einer Wegbiegung.
Shaggy zwinkerte Martimano zu. »Wir laufen zusammen, tú y yo, amigo.«
»Guadajuko«, sagte Martimano. In Ordnung.
Ann konnte die Ziellinie förmlich riechen. Sie hatte ihren Vorsprung fast verdoppelt, als Juan nach 72 Meilen die Versorgungsstation Halfmoon erreichte. Ann lag 22 Minuten vor dem Verfolger und hatte nur noch 28 Meilen vor sich.
Juan würde fast eine Minute pro Meile aufholen müssen, um gleichzuziehen, und er näherte sich dem Teilstück, das für eine solche Aufholjagd am ungeeignetsten war: einem elf Kilometer langen Asphaltstreifen. Ann konnte hier, mit ihrer Erfahrung aus vielen Straßenrennen und mit den luftgepolsterten Nikes an den Füßen, ihre langen Beine laufen lassen und richtig Fahrt aufnehmen. Juan, der bis zu diesem Tag noch nie auf einer Asphaltstraße gelaufen war, musste dagegen den ihm nicht vertrauten Belag mit selbstgefertigten Sandalen angehen.
»Seine Füße werden viel einstecken müssen«, rief Juans Schrittmacher einem Fernsehteam zu, das an der Strecke stand. Als Juan vom Bergpfad auf den harten Belag wechselte, beugte er die Knie, verkürzte die Schrittlänge und erzeugte so den benötigten Dämpfungseffekt durch die Auf-und-ab-Bewegung seiner Beine. Er stellte sich so gut auf den neuen Belag ein, dass sein überraschter Schrittmacher zurückfiel und nicht mehr mithalten konnte.
Juan jagte Ann jetzt ganz allein. Er lief die elf Kilometer bis zur Fish Hatchery in fast genau derselben Zeit, die er am frühen Morgen gebraucht hatte, dann bog er nach links auf den matschigen Pfad ab, der zum gefürchteten Powerline Climb hinaufführte. Viele Leadville-Läufer fürchten Powerline fast genauso sehr wie den Hope Pass. »Ich sah weinende Leute neben der Strecke sitzen«, erinnerte sich ein Leadville-Veteran. Aber Juan ging
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