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Bote ins Jenseits

Bote ins Jenseits

Titel: Bote ins Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hauke Lindemann
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dass er mit sich selbst konfrontiert wurde. Kurz nach seinem Abgang aus dem Reich der Lebenden war ihm das schon mal widerfahren, und es war verwirrend gewesen. Jetzt passierte es ihm schon wieder – auch wenn er wusste, dass er es technisch gesehen gar nicht war.
    Gregors Metamorphose war vollzogen. Die Sachen, die dem Privatdetektiv Schröder gepasst hatten, waren für den gertenschlanken Thore Kamp ein bis zwei Nummern zu groß und hingen wie Säcke an ihm. Aber das war jetzt egal.
    »Bleib an mir dran!«, rief Gregor ihm zu und sprintete, ohne eine Reaktion abzuwarten, los.
    Verdammt, ist der gut!, dachte Kamp und hechelte hinter ihm her. Sogar die Stimme klang wie seine eigene!
    Kamp wunderte sich, dass seine größte Sorge anderen Friedhofsbesuchern und Angestellten dieser Einrichtung galt, die möglicherweise Anstoß daran nahmen, jemanden über die Ruhestätte der Toten rennen zu sehen. Ihr Glück war, dass sie an einem Werktag hier waren und auch noch sehr früh am Tag. In einiger Entfernung registrierte Kamp zwei ältere Frauen, die Gregor missbilligend hinterhersahen.
    Schließlich war es so weit. Sie hatten Kamps Vater eingeholt. Die Hände in den Jackentaschen vergraben, ging er langsam zurück in Richtung Ausgang.
    Gregor sah sich um, bremste ab und rief: »Vater!«
    Kamps Vater blieb nicht stehen. Er verlangsamte seine Schritte nur und warf, aus reiner Neugierde, wer auf einem Friedhof so einen Radau machte, über seine Schulter einen Blick zurück. Seine Augen trafen ganz kurz die von Gregor, aber dennoch setzte er seinen Weg fort.
    Er kam etwa fünf Schritte weit. Auf dem Absatz machte er kehrt und starrte Gregor mit offen stehendem Mund an. Gregor ging auf ihn zu, aber das führte nur dazu, dass Kamps Vater ängstlich zurückwich, also gab der Bote seine Annäherungsversuche vorerst auf. Kamp war inzwischen ebenfalls eingetroffen und setzte sich, wie ein Schiedsrichter beim Tennis, genau auf halber Distanz zwischen den beiden, an den Rand des virtuellen Spielfelds.
    »Das… ist… unmöglich!«, stammelte Kamps Vater mit erstickter Stimme und blickte mit abrupten Bewegungen von seinem Sohn zu dem komischen kleinen Hund und wieder zurück.
    »Du… bist tot!«
    »Ja, Vater, natürlich bin ich tot. Warum hast du das getan?«
    Kamps Vater zögerte und legte die Stirn in Falten.
    »Äh… wie meinst du das, Junge?«
    »Warum hast du mir mein Leben genommen?«
    »Oh! Das!… Ach Junge…«
    Kamps Vater brach wieder in Tränen aus, nicht so hysterisch wie vorhin am Grab, aber dennoch beeindruckend genug.
    Kamp beobachtete ihn sehr genau und kramte in seinen Erinnerungen nach einem Ereignis wie diesem – aber da war nichts. Er musste erst sterben und in Gestalt eines Vierbeiners auf die Erde zurückkehren, um seinen Vater weinen zu sehen. Kamp versuchte Mitleid zu empfinden. Er wünschte es sich wirklich – aber auch da war nichts.
    Sein Vater war alt geworden – sehr alt. Er war nur noch ein gebrochener und offenkundig geistig verwirrter Mann. Ein Mann, der ihm die Kindheit zur Hölle gemacht hatte und der ihn offenbar auch als erwachsenen Menschen auf dem Gewissen hatte.
    Eigentlich unfassbar!
    »Ich habe das nicht gewollt. Es war keine Absicht, weißt du? Aber… verdammt… ich konnte nicht anders! Ich kam nicht dagegen an.«
    Das Sprechen fiel ihm eindeutig schwer, und er rieb sich stöhnend das Gesicht. »Ich bin schwach, Thore. Ein Versager. Ich wusste immer, dass ich euch nicht guttue. Deiner Mutter, deiner Schwester… und besonders dir.«
    Jetzt lächelte er Gregor sogar an. Es war ein unerwartet herzliches Lächeln.
    »Du warst mir immer so ähnlich… so ähnlich! Alle haben das gesehen. Ich war stolz darauf. Aber ich konnte dir kein Vorbild sein – durfte nicht! Du durftest nicht zu mir werden. Um Gottes willen, nein!«
     
     
    Gregor sah den alten Mann an und empfand das Mitleid, zu dem sein Klient nicht fähig war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seinem Sohn tatsächlich verflucht ähnelte. Thore in etwa dreißig Jahren – wenn er noch leben würde.
    »Darum habe ich es getan. Ich bereue es jeden Tag. Aber ich würde es niemals anders machen können… verstehst du das?«
    Gregor sah zu seinem Klienten und versuchte, in dessen Hundegesicht Anzeichen für seine aktuelle Verfassung zu finden. Außerdem musste die Antwort auf diese Frage von dem echten Thore kommen.
    Kamp erwiderte seinen Blick – und nickte.
    Gregor war stolz auf seinen Klienten und musste unwillkürlich lächeln.

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