Brenda Joyce
Heuchelei
nicht lassen?«
Als sie nicht antwortete, sagte er: »Ist Evan noch einmal bedroht
worden?«
Es war eine große Erleichterung, diese Last zu
teilen. »Nein.« Sie schluckte. »Gott, Calder, ich habe solche Angst um ihn!«
Er eilte zu ihr und dieses Mal nahm er sie
ganz behutsam in die Arme. »Sie müssen sich jetzt keine Sorgen mehr um ihn
machen. Überlassen Sie LeFarge mir. Er wird es nicht wagen, Ihren Bruder noch
einmal anzurühren, das verspreche ich Ihnen«, fügte er erbittert hinzu. Dabei
lag ein gefährliches Funkeln in seinen Augen.
Sie schluckte, versuchte nicht darüber
nachzudenken, dass sie sich in der Umarmung dieses Mannes befand, an seiner
breiten, muskulösen Brust lehnte. Eigenartigerweise empfand sie neben dieser
schrecklichen Anziehungskraft, die er auf sie ausübte, nun auch ein Gefühl von
Sicherheit.
»Das würden Sie für mich tun – ich meine, für Evan?«, flüsterte
sie, schon wieder beinahe zu Tränen gerührt.
»Ich tue es für Sie«, korrigierte er leise.
»Das wollen wir einmal festhalten.«
Sie lächelte kläglich.
»Kommen Sie.« Er fasste sie am Arm. »Genug der Rührseligkeiten
für heute. Ich habe eine Besprechung im Norden der Stadt. Kann ich Sie mitnehmen?
Ich würde auch gern mit Ihnen über den Freitagabend reden.«
Sie nickte und schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Das Angebot
nehme ich gern an. Und was hat es mit dem Freitagabend auf sich?«
»Ich möchte Ihnen eine neue Ausstellung in der Galerie Duval
zeigen, gefolgt von einem Abendessen in meinem Lieblingsrestaurant. Rourke wird
die Anstandsdame spielen«, fügte er mit offensichtlicher Belustigung hinzu,
während er sie aus dem Büro geleitete.
Für einen kurzen Moment war ihr unwohl bei
dem Gedanken, den Abend mit ihm zu verbringen, aber dann dachte sie: Warum
nicht? Es würden bestimmt vergnügliche Stunden werden, und wenn sie seine
Einladung nicht annahm, würde sie am Ende noch mit ihren Eltern irgendeine langweilige
Dinnerparty besuchen müssen. »Ich nehme dankend an«, sagte sie mit einem
aufrichtigen Lächeln. Tatsächlich freute sie sich schon jetzt auf den Abend.
Mr. Edwards eilte mit ihrem Mantel und ihren Handschuhen herbei.
Hart zog eine Augenbraue hoch. »Das ging aber überraschend leicht«, bemerkte
er.
»Sehen Sie«, erwiderte sie kokett. »Ich bin immer für Überraschungen
gut.«
Er lachte, nahm Edwards den Mantel ab und half ihr hinein. »Das
hatte ich gehofft«, murmelte er.
»Ich hätte noch eine kleine Bitte an Sie«, sagte Francesca, als
sich Joel wieder zu ihnen gesellt hatte. »Könnten wir kurz bei der East Tenth
Street Nummer 202 anhalten? Das würde mir eine weitere Fahrt in die Innenstadt
am späteren Abend ersparen.«
»Gewiss.« Doch er kniff die Augen zusammen, während er sich seinerseits
von Edwards in seinen schwarzen Wollmantel helfen ließ. »Und wem statten wir
dort einen Besuch ab?«
»Einer Stadtstreicherin, Hart, von der ich
hoffe, dass sie eine Zeugin bei der Ermordung von Grace Conway gewesen ist.«
Kapitel 10
DONNERSTAG, 20. FEBRUAR
1902, 19:00 UHR
»... die Mutter
schüttelt's Bäumelein, hahaha!«
»Francesca, diese Frau ist eine
Trinkerin. Sie hat bestimmt nichts gesehen. Und verrückt ist sie noch dazu!«,
rief Hart verzweifelt und erbost zugleich.
Die grauhaarige Frau saß wie schon am Dienstagabend, als Grace
Conways Leiche gefunden worden war, auf der Treppe des Hauses neben der Nummer
202. Sie war eine schwergewichtige Frau unbestimmbaren Alters mit wirrem,
ungewaschenem grauem Haar, das unter ihrer dreckigen braunen Wollmütze
hervorschaute. Ihr Mantel hatte große Löcher und darunter erhaschte Francesca
einen Blick auf ein dünnes Baumwollhemdkleid. Die Pausbacken der Frau zierte
ein kräftiges Rot, was zweifellos damit zu tun hatte, dass der Eimer mit Bier
bereits halb leer war. Sie fuhr fort »Schlaf, Kindlein, schlaf« zu singen,
wobei sie immer wieder Worte erfand und in Lachen ausbrach.
»Wir sollten besser gehen«, sagte Hart verärgert. Er war der
Inbegriff der Eleganz in seinem schwarzen Mantel, seinen feinen schwarzen
Handschuhen und seinen auf Hochglanz polierten französischen Schuhen aus
Kalbsleder. Er trug keinen Hut. Francesca hatte ihn noch nie mit einer
Kopfbedeckung gesehen.
»Nein«, sagte sie und setzte sich neben die betrunkene Frau.
»Hallo.« Sie versuchte es mit einem Lächeln.
Die Trinkerin ignorierte sie – oder
vielleicht hatte sie sie auch gar nicht gehört. Möglicherweise hatte sie nicht
einmal
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