Brenda Joyce
fragte er.
»Thomas Neville ist unten und schreit nach seiner Schwester.«
Bragg marschierte zur Tür hinaus und Francesca
beeilte sich, ihn einzuholen. Sie wechselten einen raschen Blick und
ignorierten den Aufzug, dessen Käfig ohnehin unten im Erdgeschoss stand. Er
fasste sie am Arm, während sie, gefolgt von Shea, die Stufen hinuntereilten.
»Dies ist in der Tat eine positive Entwicklung«, bemerkte Francesca atemlos.
Im Erdgeschoss angekommen, blickten sie am
Aufzugskäfig vorbei zu dem Tresen in der geschäftigen Vorhalle, wo Polizisten
damit beschäftigt waren, Schwindler und Gauner verschiedenster Couleur hinter
Gitter zu bringen, und zwei Gentlemen Beschwerden vorbrachten. Francesca
entdeckte Neville sofort. Er stand allein am Tresen, schlug immer wieder mit
der Faust darauf und schrie O'Malley an, der offenbar versuchte, ihn zu beruhigen.
»Das ist er!«, rief sie. »Ich habe das Porträt in der Galerie
Hoeltz gesehen, das seine Schwester von ihm gemalt hat.«
Sie eilten
auf ihn zu.
Thomas Neville war nur wenig älter als Francesca. Er hatte wie in
dem Gemälde rabenschwarzes Haar, dunkle Augen, eine große Nase und dünne
Lippen. Was das Porträt nicht hatte zeigen können, war seine auffallende Statur. Er überragte Bragg um etliche Zentimeter und
wirkte, obgleich seine Schultern nicht schmal waren, doch dünn wie eine
Bohnenstange. Er war auf eine vornehme Art attraktiv.
Ein
großer, kräftiger Mann ohne Augen und ohne Mund.
Francesca verbannte Ellies Stimme aus ihrem Kopf. Ellie war
betrunken gewesen und hatte halluziniert oder geträumt. Außerdem war Thomas
Neville zwar groß, aber man konnte ihn wohl kaum als kräftig bezeichnen. Er war
groß und dürr.
»Mr. Neville, was kann ich für Sie tun?« Bragg trat auf den Mann
zu und sprach ihn mit ruhiger Stimme an.
Neville drehte sich um. Seine Augen funkelten vor Wut. »Wer sind
Sie?«, fuhr er Bragg an.
Bragg streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin der Polizei-Commissioner,
Rick Bragg.«
Das versetzte Neville augenscheinlich in Erstaunen. Als er sich
von der Überraschung erholt hatte, sagte er: »Ich habe meine Schwester schon seit Tagen nicht mehr gesehen, Commissioner.
Ich bin außer mir vor Sorge! Ich habe Angst, es könnte ihr etwas zugestoßen
sein! Ich hatte angenommen, sie sei in ihre Arbeit vertieft – sie ist Malerin
–, aber jetzt gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für ihre Abwesenheit von
zu Hause. Ich glaube, sie ist verschwunden!« Seine Stimme hatte einen
hysterischen Tonfall angenommen.
»So beruhigen Sie sich doch bitte«, sagte Bragg. »Wir sind uns der
Tatsache bewusst, dass Miss Neville verschwunden ist.«
Neville atmete tief durch. Er zitterte. Dann kniff er misstrauisch
die Augen zusammen. »Tatsächlich? Und woher wissen Sie das?«
»In ihrer Wohnung wurde ein Mord verübt«, erklärte Bragg. »Haben
Sie ihre Nachbarin Miss Conway gekannt, die Schauspielerin?«
»Ein Mord!« Neville starrte ihn an, wurde
kreidebleich. »Wer um alles in der Welt – jemand wurde in ihrer Wohnung
ermordet? Aber ... das kann doch unmöglich sein!«
»Miss Conway wurde dort ermordet aufgefunden, Mr. Neville.«
Er starrte sie beide entgeistert an und es dauerte einen Moment,
ehe er fragte: »Wurde sie ... wurde sie in der Wohnung meiner Schwester
ermordet?«
»Dessen sind wir uns nicht sicher«, antwortete Bragg. »Haben Sie
sie gekannt?«
»Flüchtig. Wir haben uns im Flur gegrüßt. Sie war sehr kühl,
überhaupt nicht so wie auf der Bühne. Kühl und unfreundlich«, fügte er hinzu.
Francescas Interesse war geweckt. Kühl? Jeder andere, mit dem sie
bisher gesprochen hatten, hatte betont, wie warmherzig und wundervoll und
beliebt Grace Conway gewesen war.
»Kommen Sie, setzen wir uns doch«, schlug Bragg mit einem
freundlichen Lächeln vor und fasste Neville am Ellbogen.
Der nickte grimmig und sagte: »Ich kann das alles einfach nicht
glauben. Warum sollte jemand Miss Conway ermorden? Und dazu noch in Mellies
Wohnung!«
Sie traten in ein großes Hinterzimmer mit mehreren Schreibtischen,
wo einige Polizeiangestellte an ihren Schreibmaschinen saßen. Bragg bot Neville
einen Stuhl an.
Jegliche Farbe war inzwischen aus seinem Gesicht gewichen. Es
wirkte eher grünlich. »Bitte sagen Sie mir nicht, dass Mellie in Gefahr ist«,
stieß er hervor. »Großer Gott, ihr Verschwinden hat doch nicht womöglich etwas
mit dem Mord zu tun?«
Francesca lächelte ihn beruhigend an. »Wir hoffen es nicht. Ich
bin Miss Cahill«,
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