Brenda Joyce
doch.«
»Und wo waren Sie?«, fragte Francesca rasch.
Er richtete den Blick auf sie. »Ich bin in der Seamen's Savings
Bank auf der Pearl Street angestellt. Ich beginne je den Tag um neun und
arbeite bis fünf Uhr. Montags b freitags«, sagte er.
Francesca zog in Erwägung, dass Grace Conway am Montagmorgen vor
neun gestorben sein könnte oder auch nac fünf Uhr nachmittags. Nicht dass sie
Thomas Neville ur bedingt für den Mörder hielt, aber angesichts der wenige
Verdächtigen, die es bislang gab, durfte sie ihn nicht voreilig ausschließen.
»Um welche Uhrzeit gehen Sie zur Arbeit?«, forschte sie nach.
»Ich verlasse um Viertel nach
acht das Haus«, antwortete er, »und nehme dann die Straßenbahn in die
Innenstadt.«
»Fällt Ihnen jemand ein, der
Miss Conway vielleicht nicht wohlgesinnt war?«, wollte Bragg wissen.
»Ich sagte doch bereits, dass ich sie kaum gekannt habe«,
erwiderte Neville.
»Fällt Ihnen jemand ein, der Ihrer Schwester schaden wollte?«
»Glauben Sie, jemand hat ihr etwas zuleide getan?«, rief Neville
und erbleichte.
»Wir können augenblicklich noch nichts mit Sicherheit sagen«, gab
Bragg gelassen zurück.
»Jeder liebt Mellie«, sagte ihr
Bruder. »Jeder!«
Francesca beugte sich zu ihm hinüber. »Nicht jeder, Mr. Neville.
Denn ihre Schwester wird vermisst, und das ziemlich genau seit dem Mord an
ihrer besten Freundin. Ich glaube, dass sie etwas gesehen hat. Möglicherweise
war sie Zeugin des Verbrechens und ist weggelaufen.«
Thomas Neville traten die Augen aus dem Kopf. »O nein, o nein«,
flüsterte er zitternd.
»Denken Sie nach!«, drängte Francesca. »Fällt
Ihnen irgendjemand ein, der Miss Conway tot sehen wollte? Oder jemand, der
Ihre Schwester so sehr gehasst hat, dass er ihr Atelier zerstört und
möglicherweise versehentlich Miss Conway angegriffen hat, weil er glaubte, sie
sei Mellie?«
»Hoeltz«, keuchte er. »Hoeltz hat Mellie mit jeder Faser seines Körpers
gehasst.«
»Wie bitte?« Francesca richtete sich auf. Das war offensichtlich
eine glatte Lüge.
Tränen traten Neville in die Augen. Er
zitterte jetzt am ganzen Körper. »Sie ist am letzten Sonntagabend zu ihm
gegangen, um ihm mitzuteilen, dass sie ihn verlassen wird«, flüsterte er. »Und
ich habe ihr angesehen, dass sie schreckliche Angst hatte.«
Kapitel 12
FREITAG, 21. FEBRUAR 1902 11:00 UHR
Bartolla Benevente eilte durch die Villa der Channings
zu dem Salon, der gewöhnlich Gästen vorbehalten war. Sie hatte gerade eine
Viertelstunde damit zugebracht, ihr Haar mit dem Brenneisen zu frisieren und
Rouge auf Wangen und Lippen aufzutragen. Nun war sie der Ansicht, dass sie in
ihrer enganliegenden burgunderfarbenen Jacke und dem dazu passenden Rock mit
seinen Bordüren aus gefärbtem Fuchsfell, der Rubinhalskette und den passenden
Ohrsteckern einfach hinreißend aussah. Die Türen des Salons waren weit
geöffnet. Sie blieb auf der Schwelle stehen, um ihrem dramatischen Auftritt
mehr Wirkung zu verleihen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, dass sie ihre
Besucherin hatte warten lassen.
Leigh Anne Bragg, die auf einem samtenen Plüschsofa saß, lächelte,
als sie Bartolla sah, und erhob sich anmutig. Die beiden Frauen hatten sich vor
einigen Jahren in Rom angefreundet, als Bartollas Mann noch am Leben gewesen
war und sie die Reise zu ihrer Villa in der Toskana für einen längeren
Aufenthalt in der Ewigen Stadt unterbrochen hatten. Bartolla schenkte ihr ein
strahlendes Lächeln, eilte durch den Raum und die beiden Frauen umarmten sich.
Unglücklicherweise war Leigh Anne immer noch so wunderschön wie neulich, als
sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Glücklicherweise war Bartolla aber viel
zu selbstbewusst, um neidisch zu sein – es war lediglich ein ärgerlicher Umstand.
»Wie hübsch du aussiehst!«, rief Bartolla
immer noch lächelnd. Dabei wusste sie sehr genau, dass das Wort hübsch Leigh
Anne nicht im Entferntesten gerecht wurde. Aber falls Leigh Anne sich beleidigt
fühlte, so zeigte sie es nicht. »Und du siehst heute einfach wundervoll aus«,
erwidert Leigh Anne mit ihrer sanften, ein wenig atemlos klingenden Stimme.
»Dein Kostüm gefällt mir, Bartolla. Bitt sag mir nicht, dass du es in Italien
hast schneidern lassen. Ich wüsste zu gern, wer deine Näherin ist!«
»Genau so verhält es sich leider«, log Bartolla. Das Ensemble
hatte einmal einer der Schwestern ihres verstorbenen Mannes gehört, die es ihr
zusammen mit viele anderen geschenkt hatte, als ihr klar wurde, dass sie
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