Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
über das Tal, wo einige Hügel aus einem Wolkenmeer ragten. Doch nur einer der Hügel fesselte die Aufmerksamkeit des Betrachters, zog sie magisch an. Unvermittelt zügelte der König das Pferd, und Merlin wusste, dass er den Tor erblickt hatte, dessen spitze Kuppe sich dunkel gegen die Morgenröte am Himmel abzeichnete, die Umrisse klar und rein wie die einer griechischen Vase.
»Ja, er ist wirklich schön, ich wünschte, ich hätte ihn zu einer anderen Zeit gesehen.« Artor presste die Lippen aufeinander und trieb das Ross den Hügel hinab. »Glaubt Cador etwa, dass ich stillhalten werde, weil dies ein heiliger Ort ist? Dieser Krieg ist sein Werk!« Sein Pferd begann zu traben.
Merlin blieb ein wenig zurück und ließ den Blick über das Tal wandern. Eure Ankunft am heiligen Tor wird Euch nicht aufhalten, aber vielleicht wird sie Euch verändern.
Der Druide hatte sich in Isca aufgehalten, als er vom sächsischen Aufstand erfuhr. Einen schrecklichen Augenblick erinnerte er sich an die Ereignisse des ersten Sachsenaufstandes. Noch ehe der Bote eintraf, füllten sich seine Träume mit Bildern von Blut und Feuer. Empfand er deshalb so, als wiederhole er vor langer Zeit vollbrachte Taten? Oder war dies der alte Feind, der Weiße Drache, der sich neuerlich erhoben hatte, um Krieg gegen den Roten Drachen zu führen?
Hengest war tot. Dies war sein Enkel, und dessen Gegner war kein greiser König, den zahlreiche Kriege ausgezehrt hatten, sondern Artor. Dennoch erschien es Merlin, als sei dieser Feldzug lediglich der Höhepunkt aller Kriege, die er je gefochten hatte, und es erschien ihm richtig, dass er abermals einem König in die Schlacht folgte.
Das Sumpfland war überwiegend trocken um diese Jahreszeit. Die auf den Wasserweiden grasenden Rinder sahen sie gleichmütig an, als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten und über die Bretter des Pfades ritten. In den Senken und Hainen hing immer noch Nebel, und es schien, als bewegten sie sich durch Schleier, die verschiedene Welten voneinander trennten.
Artors Gesicht war grimmig. Zweifellos, dachte der Druide, waren seine Gedanken im Augenblick zu angespannt, um die Veränderung um ihn herum zu bemerken. Die anderen, weniger abgelenkten Männer hingegen sahen sich mit einer Mischung aus Argwohn und Verwunderung um. Je näher sie der Insel kamen, deren gerundete Hänge sich aufschwangen und so den Tor vor den Blicken verbargen, desto stärker spürte Merlin die Macht wachsen, gleich dem Pulsieren eines gewaltigen Stromes oder der Hitze eines Feuers. Es war lange her, seit er zuletzt hier gewesen war. Er hatte vergessen, wie der Tor sich für jene mit geistiger Sicht fürwahr in eine Insel aus Glas verwandeln konnte, durch die deutlich das Licht der Anderswelt schien.
Offne dein Herz und deine Augen, Junge, dachte er und mühte sich, den Einfluss jener Ausstrahlung abzuwehren. Der christliche Magier, der einst seine Anhänger an diesen Ort führte und am Fuß des Hügels die erste Kirche errichtete, hatte gewusst, was er tat. Der Tor war ein Ort der Macht.
Als sie die Insel erreichten, stand die Sonne bereits hoch. Die Nebel waren hinweggebrannt und mit ihnen ein Teil des sichtbaren Geheimnisses. Die runde Kirche und die Bienenkörben ähnelnden Hütten der Mönche schmiegten sich an den Fuß des Hügels neben der geheiligten Quelle; dahinter lebte die Gemeinschaft der Nonnen. Auf den tiefer gelegenen Weiden waren Zelte aus Leder- und Segeltuch aus dem Boden gewachsen; überall sah man Männer und Pferde. Der Ansturm so vieler Gedanken summte in Merlins Hirn.
»Sprecht mit Cador«, riet er dem König. »Und danach, wie auch immer es endet, trefft mich am Gipfel des Tor. Gewiss widerstrebt es Euch, die Zeit dafür zu opfern, dennoch müsst Ihr es tun. Vom Gipfel aus werdet Ihr mehr sehen können als nur die Straße durch das Tal. Ihr werdet Euren Weg erkennen.« Unbeirrt hielt er Artors Blick stand, bis das zornige Funkeln in den Augen des Königs erlosch, und er wusste, dass der jüngere Mann zumindest ansatzweise die uralte Macht spürte, die sie alle und ihre Ängste überdauern würde.
»Sieh dir diesen überheblichen Sohn eines Schweins an, wie er hier anstolziert, als hätte er einen Sieg errungen anstatt einen Krieg über das Land zu bringen!«, rief Gai aus. »Wäre ich Hochkönig, ich wüsste schon, wie ich ihn belohnen würde!« Mit gerunzelter Stirn beobachtete er, wie Cador sich dem Baldachin näherte, der errichtet worden war, um Schatten für das
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