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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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machen. Vermutlich saß dort draußen schon einer. Doch ich wollte ungesehen aus dem Haus gelangen, um Konrad zu treffen, und so erklärte ich meinem Vater kurz die Situation.
    »Wer hat behauptet, er hätte Leo hier gesehen?«, fragte mein Vater mich plötzlich ohne jeden Zusammenhang.
    »Jan.«
    Mein Vater fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Laurens Sohn?«
    »Ja. Er war angeblich Zeuge, wie Leo die junge Frau in Christas Scheune erschossen hat.«
    »Das hätte Leo nie getan«, sagte mein Vater, rieb sich die Stirn, band die alte Schürze meiner Mutter ab, mit der er zu kochen pflegte, und bat mich dann zu warten, bis er draußen war. Wenn in dem Auto ein Polizist saß, dann würde er ihn in ein Gespräch verwickeln und sich dabei so stellen, dass er das Haus verdeckte. Ich könnte dann hinten über unseren alten Schleichweg verschwinden.
    Als wir noch Kinder waren, schlichen wir beim Versteckspielen dicht an den Hecken entlang durch die hinteren Gärten zu einem Bachlauf hinunter, überquerten ihn und rannten dann von Grundstück zu Grundstück weiter. Wir zwängten uns durch Lücken in den Hecken, übersprangen Holzzäune und kletterten über Maschendrahtzäune.
    Ich wartete also, bis mein Vater das Haus verließ, ging dann durch die Hintertür hinaus und über den Hof, wo er einen Weg durch den Schnee geschaufelt hatte. Ich lief dicht an unserem alten Geräteschuppen entlang, tief versinkend im weichen Schnee, der in meine Stiefel fiel. Ich stapfte an der Hecke zum Nachbargrundstück weiter auf der Suche nach unserem alten Durchschlupf.
    Als ich die Lücke entdeckte, zwängte ich mich hindurch und betrat den Garten unserer Nachbarn mit seinen vielen Bäumen und Büschen.
    Ich hatte den Garten etwa zur Hälfte durchquert, als ich mit der Schuhkappe an etwas Hartes stieß, stolperte und der Länge nach hinfiel. Ich rappelte mich auf, hielt mir die Zehen und hatte Tränen in den Augen. Ich war über die hochaufragende Wurzel eines Apfelbaums gestolpert, die ich unter der dicken Schneedecke nicht gesehen hatte. Ich fluchte leise und war zugleich froh, dass mir nichts Schlimmeres passiert war. Ich biss die Zähne zusammen und hinkte die ersten Meter etwas unbeholfen weiter, doch dann entdeckte ich zu meiner großen Freude endlich die verschneite Planke und balancierte vorsichtig über den Bach, von dem aus der Pfad weiter durch die Gärten führte.
    Vor mir entdeckte ich Fußspuren im Schnee, darunter viele kleine. Ich lächelte. Kinder suchten immer das Abenteuer, und deshalb würde es diesen Pfad geben, solange Kinder in den Häusern wohnten.
    Ich folgte den Spuren, kletterte über einen vereisten Holzzaun, beschleunigte meinen Schritt und kroch durch eine Hecke. Schneebedeckte Zweige streiften mein Gesicht.
    Ich hörte ein Stöhnen ganz in der Nähe, bückte mich hinter die dürren Zweige eines Busches und sah hindurch. Wenige Meter entfernt kletterte Konrad in einer dicken Jacke unbeholfen über einen Maschendrahtzaun. Er sprang herunter, die Jacke verfing sich im Draht, und er stürzte, fluchte leise und zerrte am Jackensaum. Ich kroch hinter dem Busch hervor und ging lächelnd auf den Zaun zu, steckte die Schuhspitze in eine Öffnung, ergriff mit beiden Händen beherzt den oberen Draht und hievte das andere Bein hinüber. Der Zaun wackelte, und ich kicherte, als ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Ich zog das andere Bein nach und ließ mich neben Konrad hinunterfallen. Gelernt war gelernt.
    Konrad saß im Schnee und riss noch einmal am Saum. Ein Stück Stoff blieb im Drahtgeflecht hängen.
    »Ich bin zu alt für diesen Unfug«, sagte er und grinste mich verlegen an. Ich reichte ihm die Hand und half ihm hoch. Er klopfte sich den Schnee von Hose und Jacke und ging dann hinter mir her, während wir uns über Belanglosigkeiten unterhielten. Dass es lange keinen so frühen und schneereichen Winter mehr gegeben hatte, dass das Streusalz des städtischen Winterdienstes nur noch für zwei, höchstens drei Wochen reichte, dass wir hofften, es würde zwischendurch tauen. Dass ich Weihnachten mit meinem Vater verbringen würde, dass er mit seiner Familie Skiurlaub in den Dolomiten machen würde.
    Wir unterhielten uns nicht darüber, wohin wir gingen. Wir wussten es beide auch so. Anfang der 1980er Jahre, als Leo, Hinner, Charles und Konrad ihre Gang gegründet hatten, hatten sie in den Sommerferien in wochenlanger Arbeit eine windschiefe Holzhütte in das kleine Wäldchen gesetzt. Normalerweise war das

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