Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
seinen Fersen. Louis Suleau trat als Vierter ins Freie. Auf einen Ruf von Théroigne hin hielten die Angreifer inne; sie rückten sogar etwas von ihm ab, sodass die Nachdrängenden sich stauten und Camille hilflos zwischen ihnen eingezwängt stand, außerstande, auch nur einen Finger zu rühren, während Théroigne sich vor Louis Suleau aufbaute und etwas zu ihm sagte, das nur er hören konnte. Louis hob eine Hand, als wollte er sagen: Wozu das alles jetzt aufwärmen? Die Gebärde brannte sich in Camilles Gedächtnis ein. Es sollte Louis’ letzte sein. Er sah Théroigne die Pistole heben. Den Schuss hörte er nicht. Binnen Sekunden waren sie von Sterbenden umgeben. Louis’ Leichnam – oder sein noch lebender Körper, wer konnte es wissen? – ging in der Menge unter, in einem Strudel wild ausholender Arme und Klingen. Fréron herrschte den Gardisten an, und der junge Mann, blutrot im Gesicht vor Unglück und Hilflosigkeit, zog den Säbel und bahnte ihnen eine Gasse. Ihre Füße patschten durch frisches Blut.
»Es war nichts mehr zu machen«, sagte der Junge immer wieder. »Bitte, Camille, ich hätte eher kommen müssen, es waren ja sowieso Royalisten, und es war wirklich überhaupt nichts mehr zu machen.«
Lucile war ausgegangen, um Brot fürs Frühstück zu kaufen. Jeanette zu schicken hatte keinen Sinn; seit es hell war, hatte die Frau die Nerven verloren und lief wie ein kopfloses Huhn durch die Wohnung.
Lucile nahm ihren Korb über den Arm. Sie zog eine Jacke an, trotz der Wärme, damit sie ihr kleines Messer in die Tasche stecken konnte. Niemand wusste, dass sie dieses kleine Messer besaß, sie gestand es sich kaum selbst ein, aber sie trug es bei sich, für den Notfall. Denk nur, sagte sie sich, du könntest am rechten Seine-Ufer leben. Du könntest mit einem hohen Finanzbeamten verheiratet sein. Du könntest mit hochgelegten Füßen in deinem Salon sitzen und ein Batisttaschentüchlein mit Kletterrosen besticken. Stattdessen versuchst du auf der Rue des Cordeliers ein Baguette zu ergattern, mit drei Zoll Stahl als deinem Trost und Helfer.
Sie blickte in die Gesichter ihrer nächsten Nachbarn. Wer hätte gedacht, dass unsere Sektion so viele Royalisten beherbergt? »Du Mörderhure«, sagte ein Mann zu ihr. Sie setzte ein Lächeln auf, ein besonders aufreizendes Lächeln, das sie sich von Camille abgeschaut hatte. Von mir aus, sagte dieses Lächeln, versuch’s nur . In ihrer Fantasie schloss sie die Handfläche um den glatten Messergriff, senkte die Klinge in nachgiebiges Fleisch. Kurz vor ihrer Haustür erkannte noch ein Mann sie und spuckte ihr ins Gesicht.
Sie blieb im Hausgang stehen, um sich den Speichel abzuwischen, lief dann die Treppe hinauf, setzte sich hin, das Brot auf dem Schoß. »Wollen Sie das etwa essen?« Jeanette wrang verquält die Schürze in ihren Händen.
»Natürlich, nachdem ich dafür solche Unannehmlichkeiten auf mich genommen habe. Reiß dich zusammen, Jeanette, setz Kaffee auf.«
Aus dem Wohnzimmer rief Louise: »Ich glaube, Gabrielle wird ohnmächtig.«
Sodass sie vielleicht doch nie zu ihrem Frühstück kam; hinterher konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie verfrachteten Gabrielle aufs Bett, schnürten ihre Kleider auf, fächelten ihr Kühlung zu. Lucile öffnete ein Fenster, aber der Lärm von der Straße setzte Gabrielle nur noch mehr zu, also schloss sie es wieder, und sie ertrugen die Hitze. Gabrielle döste, und sie und Louise wechselten sich beim Vorlesen ab und tratschten und neckten einander ein bisschen und erzählten sich ihre Lebensgeschichten. Die Stunden krochen dahin, bis Camille und Fréron heimkamen.
Fréron sackte in einen Sessel. »Kadaver bis hierhin« – er zeigte die Höhe an. »Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, Lucile, aber Louis Suleau ist tot. Ja, wir waren dabei, wir haben es gesehen, sie haben ihn vor unseren Augen getötet.«
Er wollte, dass Camille sagte, Fréron hat mir das Leben gerettet, oder wenigstens, Fréron hat mich vor einer großem Dummheit bewahrt. Aber Camille sagte nur: »Karnickel, ich bitte dich, spar es dir für deine Memoiren auf. Wenn ich heute auch nur ein einziges weiteres Wort darüber höre, tue ich dir etwas an. Und zwar etwas ziemlich Übles.«
Bei seinem Anblick nahm Jeanette sich zusammen. Der Kaffee wurde endlich gebracht. Gabrielle kam aus dem Schlafzimmer getaumelt, ihr Mieder erst halb geknöpft. »François habe ich seit heute Morgen nicht mehr gesehen«, berichtete Camille Louise. Seine Stimme
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