Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
eintraf. Erst gestern hatte man beschlossen, jegliche weitere Diskussion über die Zukunft der Monarchie auszusetzen; nun plötzlich schien es, als wären sämtliche Überreste dieser Institution in dem verheerten, geplünderten Palast zurückgeblieben. Die Rechte behauptete, die Vertagung der Debatte sei das Signal zum Aufstand gewesen; aus Sicht der Linken hatten die Abgeordneten in dem Augenblick, in dem das Thema fallengelassen worden war, auch jeden Anspruch auf Meinungsführerschaft fallenlassen.
Die Familie des Königs und eine Handvoll ihrer Freunde wurden in die Loge des Protokollführers hinter dem Präsidententisch gepfercht, aus der sie auf die Abgeordneten niederblickten. Ab dem Nachmittag drängte eine nicht abreißende Prozession von Bittstellern und Delegierten durch die Korridore und in den Verhandlungssaal. Die Gerüchte von draußen waren so schauerlich wie grotesk. Sämtliche Polster und Matratzen im Palast seien aufgeschlitzt worden, sodass man vor lauter Daunengestöber nicht mehr die Hand vor Augen sehen könne. Auf dem Bett der Königin gingen Dirnen ihrem Gewerbe nach – wie dies allerdings mit der vorherigen Geschichte vereinbar sein sollte, konnte keiner erklären. Ein Mann habe einem anderen die Kehle durchgeschnitten und dann über dem Leichnam Geige gespielt. In der Rue de l’Échelle sollten hundert Menschen totgestochen und -geprügelt worden sein. Ein Koch sei gekocht worden. Das Gesinde werde unter Betten hervor- und aus Rauchfängen herausgezerrt und aus den Fenstern geworfen, um draußen auf Piken gespießt zu werden. Vielerorts brannte es, und die üblichen Kannibalismusgerüchte machten die Runde.
Vergniaud, der derzeitige Präsident der Versammlung, hatte es längst aufgegeben, zwischen Wahrheit und Hirngespinsten unterscheiden zu wollen. Unter ihm, im Parkett, zählte er fast mehr Eindringlinge als Deputierte. Im Minutentakt flog die Tür auf, um erschöpfte, verdreckte Männer einzulassen, alle schwer beladen mit Gegenständen, die, wären sie nicht geradewegs in die Manege gebracht worden, schlicht Diebesgut dargestellt hätten. Bei aller Liebe, dachte Vergniaud, es ging doch zu weit, der Nation intarsienverzierte Nachtstühle und komplette Molière-Ausgaben zu Füßen zu legen. Der Saal begann einer Auktionshalle zu ähneln. Vergniaud versuchte unauffällig seine Halsbinde zu lockern.
In der engen, stickigen Protokollführerloge kämpften die königlichen Kinder mit dem Schlaf. Der König, der fürchtete, sonst vom Fleisch zu fallen, nagte an einem Kapaunenbein. Von Zeit zu Zeit wischte er sich die Finger an seinem schlaffen Purpurmantel ab. Auf den Bänken unter ihm vergrub ein Abgeordneter das Gesicht in den Händen.
»War nur kurz zum Pissen draußen«, sagte er, »und plötzlich hat mich Camille Desmoulins am Wickel. Drückt mich an die Wand, sagt mir, dass ich Danton zum Papst wählen muss. Oder vielleicht will er auch Gott werden, das ist noch nicht raus, jedenfalls soll ich gefälligst für ihn stimmen, sonst wache ich demnächst mit durchgeschnittener Kehle auf.«
Ein paar Bänke weiter beratschlagte Brissot mit Ex-Minister Roland. M. Roland war gelber im Gesicht als je zuvor; er drückte seinen staubigen Hut an die Brust, als wäre das sein letzter Halt auf der Welt.
»Die Versammlung muss aufgelöst werden«, sagte Brissot, »es muss Neuwahlen geben. Bevor diese Sitzung endet, müssen wir ein neues Kabinett und einen neuen Ministerrat nominiert haben. Doch, jetzt sofort, wir müssen es jetzt tun – jemand muss schließlich das Land regieren. Sie müssen ins Amt des Innenministers zurückkehren.«
»Meinen Sie wirklich? Und Servan? Clavière?«
»Ja, natürlich«, sagte Brissot. Dazu bin ich geboren, dachte er: um Regierungen zu bilden. »Alles wird wieder so wie im Juni, nur dass kein königliches Veto Sie mehr behindert. Und dass Sie Danton als Kollegen haben.«
Roland seufzte. »Das wird Manon gar nicht gefallen.«
»Sie wird sich ins Unvermeidliche fügen müssen.«
»Welches Ministerium sollen wir Danton übertragen?«
»Das wird sich relativ gleich bleiben«, sagte Brissot düster, »die Oberhand hat er sowieso.«
»Ist es so weit gekommen?«
»Wenn Sie gestern auf den Straßen gewesen wären, würden Sie daran nicht zweifeln.«
»Wieso, waren Sie auf den Straßen?« Roland zweifelte sogar sehr.
»Ich bin informiert«, sagte Brissot. »Sehr gründlich informiert. Alle wollen Danton. Schreien sich für ihn die Kehle aus dem Leib. Was sagen
Weitere Kostenlose Bücher