Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Vorteil verschaffen. Ansonsten sterben sie ab, weil andere Formen ihnen gegenüber im Vorteil sind.« Er zeigt auf ein Glasgefäß, und ich öffne den Deckel. »Doch wenn ein bestimmter Selektionsdruck ausgeübt wird und einem Mutanten einen Vorteil verschafft, vermehrt sich dieser Mutant und verdrängt schließlich das ursprüngliche Virus.«
»Das hat mir auch schon ein Virologe drüben in Camas erklärt«, sage ich.
»Er hat recht, jedenfalls meiner Meinung nach.«
»Er hat mir auch erzählt, dass wahrscheinlich das Heilmittel diesen selektiven Druck ausgeübt und die Mutation verursacht hat.«
»Könnte sein«, bestätigt Oker, »aber trotzdem glaube ich nicht, dass diese Entwicklung geplant war. Es war, wie wir außerhalb der Gesellschaft manchmal sagen, einfach Pech. Eine der Mutationen hat das Virus resistent gegen das Medikament gemacht, und daher konnte sich das Virus ungehindert vermehren.«
Oker hat es mir bestätigt. Das Heilmittel hat die wahre Pandemie ausgelöst.
»Aber jetzt habe ich vorgegriffen«, sagt Oker und fährt trocken fort: »Dabei wollte ich dir zunächst einmal erklären, wie ein Virus wirkt. Teilweise hast du es dir schon selbst zusammengereimt. Am besten kann ich es anhand einer Geschichte illustrieren, und zwar an einer der Hundert. Nummer drei. Erinnerst du dich daran?«
»Ja«, sage ich, und das stimmt tatsächlich. Ich habe sie mir deswegen gemerkt, weil die weibliche Hauptperson darin so ähnlich heißt wie ich – Xanthe.
»Erzähl sie mir«, fordert Oker mich auf.
Als ich neulich versucht habe, Lei eine Geschichte zu erzählen, habe ich mich nicht mit Ruhm bekleckert. Ich wünschte, ich hätte ihr etwas Besseres bieten können. Aber ich will es versuchen, weil mich Oker dazu aufgefordert hat und weil er vermutlich derjenige sein wird, der das Heilmittel entwickelt. Ich muss ein Lächeln unterdrücken. Wir werden es finden. Wir schaffen das!
»Die Geschichte handelt von einem Mädchen namens Xanthe«, beginne ich. »Eines Tages wollte sie die für sie bestimmten Mahlzeiten nicht mehr essen. Als die Lieferung kam, nahm sie sich stattdessen heimlich den Haferbrei ihres Vaters und aß ihn. Doch er war zu heiß, und Xanthe fühlte sich den ganzen Tag krank und fiebrig. Am nächsten Tag stahl sie den Haferbrei ihrer Mutter, doch der war zu kalt, und sie bekam Schüttelfrost. Am dritten Tag aß sie wieder ihren eigenen Brei. Er war genau richtig, und es ging ihr gut.« Ich halte inne. Es ist eine ziemlich dämliche Geschichte, die Gesellschafts-Kinder ermahnen sollte, sich nach Wunsch zu verhalten. »So geht es die ganze Zeit weiter«, erzähle ich Oker. »Am Ende erhält sie drei Tadel für ungehöriges Benehmen, bis sie erkennt, dass die Gesellschaft weiß, was das Beste für sie ist.«
Zu meiner Überraschung nickt Oker. »Gar nicht schlecht«, meint er. »Du hast allerdings den Teil mit ihrem Haar vergessen.«
»Richtig«, sage ich. »Es war golden. Der Name Xanthe bedeutet ›Gold‹.«
»Aber das ist unwichtig«, sagt Oker. »Das Entscheidende ist die Vorstellung, dass etwas zu heiß, zu kalt oder genau richtig sein kann. Genauso funktioniert ein Virus. Es bedient sich der, wie ich sie nenne, ›Xanthe-Strategie‹. Ein Virus darf seine Opfer nicht zu schnell verlieren. Es tötet die Organismen, die es infiziert, aber dabei muss ihm genug Zeit bleiben, zum nächsten Organismus zu wandern.«
»Wenn also ein Virus seine Opfer zu schnell tötet«, sage ich, »ist es zu heiß.«
»Und wenn es nicht schnell genug auf einen anderen Organismus übergeht, stirbt es«, sagt Oker. »Dann ist es zu kalt.«
»Genau in der Mitte findet es die idealen Bedingungen«, schlussfolgere ich.
Oker nickt und erklärt: »Diese Mutation ist genau richtig, und nicht nur wegen der Gesellschaft und der Erhebung und deren jeweiliger Taten. Sie haben gewisse günstige Bedingungen geschaffen, das schon. Aber das Virus ist von ganz allein mutiert, wie es Viren schon seit jeher tun. In der ganzen Menschheitsgeschichte hat es Seuchen gegeben, und dies wird nicht die letzte sein.«
»Wir können uns also nie in Sicherheit wiegen«, sage ich.
»O nein, mein Junge«, antwortet Oker fast sanft. »Vielleicht war das der größte Triumph der Gesellschaft – dass sich so viele von uns absolut sicher wähnten.«
Kapitel 31
Cassia
Ich sollte nach Ky sehen.
Ich sollte hierbleiben und an dem Heilmittel arbeiten.
Sobald ich anfange nachzudenken, bin ich hin-und hergerissen und verliere den Faden,
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