Cevdet und seine Soehne
Geld zu kommen? Warum
meint er, ich würde mich von ihm einschüchtern lassen?« Ruckartig blieb er
stehen. Er zwang sich zu intensivem Nachdenken, so wie er dies in letzter Zeit
oft tat, wenn er nicht auf ein Wort oder einen Namen kam. »Ich strenge mich an,
aber mir fällt einfach nichts ein! Wie ist er nur auf mich gekommen? Ach, da
sind sie ja!«
Nigân kam die paar Stufen zum Garten
herunter. Sie trug einen kamelhaarfarbenen Mantel und ein schwarzes Hütchen. An
jeder Hand hielt sie einen ihrer Enkel. Da in deren Schule eine ansteckende
Krankheit grassierte, ließ ihre Mutter die beiden seit zwei Tagen daheim. Der
in diesem Jahr eingeschulte Cemil riss sich nach der Treppe los und lief im
Garten umher.
»Bleib hier! Renn doch nicht so, du
fällst mir noch hin!« rief ihm Nigân hinterher.
Cevdet fand die Stimme seiner Frau
matt und leblos. Die Glocke an der Gartentür klingelte. Sie machten sich auf in
Richtung Maçka.
»Er meint, ich fühlte mich ihm
gegenüber schuldig. Wie kommt er bloß darauf? Nicht genügend unterstützt soll ich
ihn haben! Ihn loswerden wollen!« Nigân hakte sich bei ihm unter. Cevdet dachte
an den Tod seines Bruders zurück, an ihre Heirat und den Umzug nach
Nişantaşı, an den kleinen Ziya, wie er damals im Haus
herumgelaufen war. »Kaum größer als meine Enkel war er damals. Doch er hatte
etwas Seltsames an sich. Als sei er gar kein richtiges Kind. Als sei er schon
erwachsen gewesen und dann wieder eingeschrumpft. Dieser hinterhältige Blick.
Er schaute einen so schräg von unten an, als wollte er einen verhören und
verurteilen. Und doch lag auch etwas Kindliches in dem Blick, wie auch neulich
noch, als er ein zweites mal Geld verlangte!« Sie gingen die Trambahnlinie
entlang in Richtung Polizeiwache. Cevdet ärgerte sich. »Er gefiel mir schon
damals nicht!«
Als sie an der Polizeiwache
anlangten, kam jemand aus einem Laden heraus und auf sie zu. Cevdet erkannte
ihn nicht, doch der Mann sprach ihn fast unterwürfig an und wollte ihm sogar
die Hand küs sen. Cevdet ließ es zu, doch fragte er sich: »Wer kann das nur sein?«
Der noch recht junge Mann küsste auch Nigân die Hand. Er hatte ein
vertrauenerweckendes Gesicht und trug eine Schürze. Irgendwie dankbar sah er
Cevdet an und strich dann den Enkeln über den Kopf. »Er muss ein guter
Bekannter von uns sein, aber wer bloß?«
Als sie an der Polizeiwache vorbei
waren, fragte Cevdet verlegen seine Frau.
»Was? Du hast ihn nicht erkannt? Das
war doch Aziz! Der Gärtner! Nur dass er eben nicht mehr kommt, seit er seinen
Gemüseladen hat.«
»Ach so, Aziz!« Bis er vor zwei
Jahren – sogar mit Unterstützung Cevdets – seinen Laden aufgemacht hatte, hatte
er den Garten tadellos in Ordnung gehalten. Zum erstenmal gesehen hatte Cevdet
Aziz, als er mit dessen Vater das Haus besichtigt hatte. Der Vater hatte schon
damals gesagt, der Junge solle Gärtner werden. Cevdet erinnerte sich, wie er im
Garten Sonnenblumenkerne kaute … »Wie konnte ich den nur nicht
wiedererkennen?« Er hatte ihn nun erstmals vor seinem Laden gesehen.
Der Ton, in dem Nigân dieses »Du hast
ihn nicht erkannt?« gesagt hatte, schlug Cevdet auf den Magen. »Aber es stimmt
schon, das passiert mir immer öfter.« Er brachte alles durcheinander. Das Alter
eben. In die Firma ging er nur noch zweimal in der Woche. Er verspürte keinen
Antrieb mehr, dort etwas zu tun, und Aufgaben wies man ihm ohnehin nicht mehr
zu. »Wenn aber einer meine Hilfe braucht, bin ich immer zur Stelle!« Dieser
Gedanke richtete ihn auf. Jeder in Nişantaşı kannte ihn, von
allen wurde er ehrerbietig gegrüßt. Für fast jedermann hatte er irgendwann
einmal etwas getan. »Zweiunddreißig Jahre bin ich schon hier!«
Sie näherten sich Teşvikiye.
Cevdet sah das neue Apartmenthaus gegenüber der Moschee. Wem gehörte das noch
mal? Als er drei Tage vorher mit Nigân hier vorbeigekommen war, hatte sie es
ihm gesagt, doch inzwischen war es vergessen. Doch, da fiel es ihm wieder ein:
Es gehörte diesem Tabakhändler aus Izmir, diesem hochaufgeschossenen Kerl, wie
hieß der gleich wieder? Der Name lag ihm auf der Zunge, und bis Teşvikiye
suchte Cevdet danach. Resigniert gab er dann auf. Kalt kam es ihm vor.
Seit zweiunddreißig Jahren war er
hier. Vor zweiunddreißig Jahren war er in den Konak in Teşvikiye gekommen
und hatte Nigân zum erstenmal gesehen. Seit zweiunddreißig Jahren wohnte er in
dem Haus in Nişantaşı. Vor zweiunddreißig Jahren war er an einem
Sommertag mit
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